50 Prozent der Neuinfektionen werden durch Menschen verursacht, die von ihrer HIV-Infektion nichts wissen

Hamburg. 80.000 Menschen leben in Deutschland, die mit dem Aids-Erreger HIV infiziert sind. Nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI), die auf einer mathematischen Auswertung des bisherigen Verlaufs beruhen, wissen 14.000 der Betroffenen nicht, dass sie das lebensbedrohliche Virus in sich tragen – das sind 1000 mehr, als die Berechnungen des RKI im vorangegangenen Jahr ergaben.

Knapp die Hälfte der Betroffenen ist bereits länger als drei Jahre infiziert. Das bedeutet, sie können an Aids erkranken, weil sie nicht rechtzeitig behandelt werden. „Gerade diesen Personen kommt für die Verbreitung der HIV-Infektion eine besondere Rolle zu, da sie aus Unkenntnis keine besonderen Schutzmaßnahmen ergreifen und unbehandelt ihre HIV-Infektion noch eher an Partner weitergeben können“, sagt Prof. Andreas Plettenberg, Leiter des ifi-Instituts für interdisziplinäre Medizin auf dem Gelände der Asklepios Klinik St. Georg. „Wir wissen inzwischen, dass die Einnahme von Medikamenten gegen HIV, sogenannte antiretrovirale Arzneimittel, das Risiko einer sexuellen Übertragung deutlich senkt.“

Etwa 50 Prozent der Neuinfektionen werden durch Personen herbeigeführt, die von ihrer HIV-Infektion nichts wissen. Das Risiko, sich beim Sex ohne Kondome zu infizieren, sei heute sogar deutlich höher als Ende der 1990er-Jahre, so das RKI. „Dem geringeren Übertragungsrisiko beim Sex mit HIV-Positiven, die therapiert werden, steht ein höheres Risiko gegenüber beim Sex mit Menschen, die annahmen, sie seien negativ.“

2013 infizierten sich in Deutschland 3200 Menschen mit dem HI-Virus

Nimmt man die aktuellen Zahlen, so steckten sich in Deutschland allein im vergangenen Jahr 1600 Menschen beim Sex ohne Kondom an und wiegen sich noch immer in der trügerischer Sicherheit, sie seien gesund. Insgesamt 3200 Menschen, unter ihnen 2400 schwule Männer, infizierten sich 2013 nach Informationen des RKI neu mit dem Virus. 550 Menschen starben an Aids. In Hamburg gab es im gleichen Zeitraum 230 Neuinfektionen. Auch hier sind die meisten der Neuinfizierten Männer, konkret 210. Insgesamt leben in der Hansestadt 6600 Infizierte; 960 Betroffene wissen statistisch betrachtet nichts von ihrer Erkrankung.

„Eigentlich würde man erwarten, dass die Zahl der Neuinfektionen deutlich abnimmt, weil ein immer größerer Anteil der HIV-positiven Menschen mit antiretroviralen Medikamenten behandelt wird“, sagt Andreas Plettenberg. Auch Manuel Izdebski vom Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe betont: „Es könnte deutlich weniger Infektionen geben: Ein Rückgang ist machbar.“

Doch offenbar reichen das bestehende Testangebot, die Möglichkeiten einer frühen Diagnostik und der umfassende Zugang zur medizinischen Versorgung bislang nicht aus, um die unheilbare Viruserkrankung zu stoppen. „Die eindringliche Aufgabe der Prävention besteht deshalb heute darin, Menschen, die sich möglicherweise infiziert haben könnten, zum Test zu motivieren“, sagt Plettenberg. Nur wer um seine Infektion weiß, kann sich und andere schützen. Ein Risiko besteht grundsätzlich für jeden, der ungeschützt Sex hatte, insbesondere aber für Schwule.

Doch Betroffene zögern, auch weil sie fürchten, diskriminiert zu werden. Immer noch sind HIV und Aids Themen, über die nicht so locker geredet wird wie über Zahnschmerzen oder Burn-out. Immer noch wird hinter dem Rücken von Menschen, die offen zu ihrer Erkrankung stehen, getuschelt; mancher (Zahn-)Arzt verweigert ihnen eine Behandlung, ihre Kinder werden ausgegrenzt oder Arbeitgeber diskriminieren sie. „Die Zurückweisung wegen der Infektion und die Angst davor wiegt bei Menschen mit HIV heute meist schwerer als die gesundheitlichen Folgen der Infektion“, so die Aids-Hilfe.

Mit der Kampagne zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember („Kannst du positiv zusammen Leben? Klar“) will sie mit Aufklärung über HIV und Aids helfen, Ängste abzubauen und Vorurteile zu beseitigen. „Zudem“, so fordert Prof. Plettenberg, „müssen vorhandene Angebote ausgebaut und die Tests kostenfrei durchgeführt werden.“ Da weltweit andere sexuelle übertragbare Erkrankungen wie Syphilis, Tripper und Chlamydien-Infektionen zunehmen, müssen auch sie bei Tests stärker berücksichtigt werden. Denn diese Erkrankungen begünstigen die Ausbreitung der HIV-Infektion, weil die HI-Viren im Verbund mit diesen Erkrankungen leichter übertragen werden. „Diese Erkrankungen können auch vorliegen, wenn keine Symptome wahrgenommen werden“, sagt Plettenberg.

Vor allem junge schwule Männer stecken sich an

Das ifi-Institut für interdisziplinäre Medizin hat in einer Studie festgestellt, dass bei 35 von 250 HIV-positiven Männern, die von ihnen betreut werden, eine sexuelle Erkrankung vorlag, von der die Betroffenen nichts wussten. Die Mehrheit von ihnen waren junge schwule Männer, also jünger als 30 Jahre, mit höherer Partnerzahl und häufigen ungeschützten Sexualkontakten.

Der Trend, dass sich vor allem wieder jüngere schwule Männer infizieren, beunruhigt auch das Robert Koch-Institut. Es vermutet, dass zu dieser Entwicklung auch das Internet beiträgt. Es erleichtere die Kontaktaufnahme. „Dadurch vergrößern sich die in sexuellen Netzwerken verknüpften Populationen“, schreibt das Bundesinstitut in bestem Medizinerdeutsch und fügt hinzu, dass diese Kommunikationswege insbesondere von Jüngeren genutzt würden, um Kontakte anzubahnen.

Zugleich ist unverkennbar, dass Schutzmaßnahmen laxer gehandhabt werden. Safer Sex ist nicht mehr selbstverständlich, seit Medikamente einen (frühen) Tod verhindern. „Dabei ist der Erwerb einer HIV-Infektion für den Betroffenen nach wie vor etwas sehr Einschneidendes, das ihn zeitlebens beeinflusst, in seiner Sexualität oder durch die lebenslang notwendige Einnahme von Tabletten“, sagt Plettenberg. „Es wird völlig ignoriert, dass diese Medikamente, auch wenn sie besser verträglich sind als früher, sehr wohl Nebenwirkungen haben.“ Zwar könnten viele der Betroffenen mit ihrer HIV-Infektion wohl alt werden, es komme aber dennoch bei vielen zu gesundheitlichen Problemen und nicht selten zu seelischen Belastungen. „Insofern ist es unverständlich und unklug, dass die Vorsichtsmaßnahmen in den Risikogruppen wieder abgenommen und riskante Praktiken zugenommen haben“, sagt Plettenberg. „Es ist eine irrige Annahme, dass die HIV-Infektion einfach zu handhaben und ungefährlich sei.“ Weltweit starben mindestens 36 Millionen Menschen an Aids. In Deutschland erlagen bisher 28.000 Menschen ihrer HIV-Infektion. Trotz aller Fortschritte in der Therapie ist eine Heilung nicht in Sicht.