Wie viele Männer will auch Holger Stein den ersten Schuss vor den Bug nicht wahrhaben. Erst nach Wochen, als die Atemnot immer größer wird, lässt er sich von seiner Frau einen Termin beim Arzt besorgen. Eine siebenstündige OP im Albertinen-Krankenhaus rettet ihm das Leben. Ein beispielhafter Fall – Claudia Sewig und Bertold Fabricius (Fotos) haben ihn dokumentiert

Wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, sagt Holger Stein gern Sätze wie „muss ja“ oder „geht schon“. Er zuckt dabei mit den Schultern und senkt den Blick. Das Gespräch darf dann von ihm aus eine andere Wendung nehmen. Weg von ihm, von seinem Befinden.

Holger Stein sieht Sachen nüchtern. So auch diese Sache. Für ihn sei es eine „Art Dienstreise“, sagt er. Und nickt dabei kurz, wie, um sich diese Ansicht selbst noch einmal zu bestätigen. „Eine Dienstreise zu einer erstklassigen Reparatur.“ Doch es handelt sich nicht um ein defektes Fahrzeug, das der ehemalige Leiter des Fahrsicherheitsprogramms der Hamburger Polizei in die Werkstatt bringt. Es geht um seinen eigenen Motor, der streikt. Dieses muskuläre Hohlorgan, das Zentrum unseres Körpers, Synonym für den Sitz der Gefühle – das, was Leben erst zum Leben macht. Holger Stein braucht eine Herz-Operation. „Dabei war ich bis vor einem Jahr eigentlich kerngesund“, sagt der 65-Jährige.

Hamburg, Mitte November 2013. Seit einigen Tagen weiß der Ammersbeker, dass er sich am 19. November im Albertinen-Krankenhaus in Hamburg-Schnelsen einfinden soll. Knapp 25 Kilometer Luftlinie trennen ihn von der lebensnotwendigen Operation, die für den Morgen des 20. November angesetzt ist. Gefühlt ist das Ganze für Holger Stein viel, viel weiter weg.

Sein Vater und sein Bruder waren an Herzerkrankungen gestorben

2012 wurden in Deutschland 102.370 Operationen am Herzen und an herznahen Gefäßen durchgeführt. Allein 3621 Mitralklappen rekonstruierten die Chirurgen dabei. Die Mitralklappe ist eine der vier Klappen des Herzens, das „Einlassventil“ zwischen dem linken Vorhof und der linken Herzkammer. Bei Holger Stein ist sie undicht, wie Professor Friedrich-Christian Rieß sagt. Der 58-jährige Chefarzt der Herzchirurgie und Chairman des Albertinen-Herzzentrums wird Holger Stein operieren. Mit „drei Operationen in einer“, sagt er. Denn es ist nicht nur die Klappe, die Holger Stein Probleme bereitet: „Herr Stein braucht auch Bypässe zu den Herzkranzgefäßen, außerdem müssen wir sein Vorhofflimmern behandeln“, sagt Rieß. So jedenfalls ist die erste Diagnose. Ganz schön viel auf einmal, selbst für einen gestandenen Mann wie Holger Stein, der im aktiven Polizeidienst manch brenzlige Situation gemeistert hat. Und der die Schmerzen eines Herzinfarkts mit ein paar Aspirin beiseitewischte.

Das war im Urlaub auf Usedom gewesen, Ende August, Anfang September 2013. Wie nach einem „Ellenbogencheck beim Fußball, damals“ hatte sich der Ammersbeker eines Morgens gefühlt. Mit Schmerzen links außen im Brustkorb. Seiner Frau Marianne hatte er aber nichts davon gesagt – bloß keine Aufregung wegen der paar Schmerzen! „Wer einen Infarkt so wegschiebt, ist schon ein ganz schön harter Hund“, sagt Professor Rieß.

Ein Herzinfarkt wird durch ein oder mehrere akut verschlossene Herzkranzgefäße ausgelöst. Ist die Blutzufuhr zum Herzmuskel unterbrochen, werden die Herzmuskelzellen nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und sterben ab. Die Folge: „Es entstehen Herzrhythmusstörungen, die zu einem Kammerflimmern mit gleichzeitigem Kreislaufstillstand führen können“, erläutert Rieß. Außerdem vernarbe der Herzmuskel an den abgestorbenen Stellen, und die vernarbte Muskulatur pumpe nicht mehr – die Herzfunktion nimmt also ab und damit auch die Leistungsfähigkeit des Menschen.

Auch wenn der Infarkt ihn überrascht habe: Dass da „etwas war“, hatte Holger Stein dann doch schon länger gemerkt. Die steinsche Krankheit, wie er es nennt, habe er immer im Hinterkopf gehabt – sein Vater und auch sein Bruder seien an Herzerkrankungen gestorben. Bei einem Belastungs-EKG vor drei Jahren, bei dem zunächst alles bestens schien, sei plötzlich das Vorhofflimmern aufgetreten. „Das war der erste Schuss vor den Bug“, sagt Stein. „Seitdem ist mein Mann nicht mehr zum Arzt gegangen“, sagt seine Frau Marianne. Das Prinzip Verdrängung.

Und das Prinzip Ablenkung noch dazu: Im Mai 2013 hatte Tochter Maren, 31, im September dann Sohn Matthias, 35, geheiratet. Feste der Liebe, der Herzen! Da wollte Holger Stein viel lieber fröhlich feiern, als über seine Gesundheit nachzudenken – auch wenn sich besonders die Tochter große Sorgen machte. „Ich will dich bei meiner Hochzeit dabeihaben“, hatte sie ihm gesagt. Sorgenvoll und gleichzeitig mit dem Untertitel „Tu etwas!“, wie das Töchter gegenüber ihren Vätern oftmals besonders gut können.

Vor allem die Kurzatmigkeit machte Holger Stein da schon eine Weile zu schaffen. „Olaf, ich muss mich mal kurz hinsetzen“, hatte er einem Freund beim Golfen schon öfter sagen müssen. Auch die Treppen im eigenen Haus ließen sich immer schwerer bezwingen. Durch die verengten Gefäße bekam das Herz nicht mehr genug sauerstoffreiches Blut, sollte er später erfahren. Noch dazu staute sich Blut durch die undichte Mitralklappe in der Lunge. Und doch musste erst Marianne Stein, als sie sich für einen Kontrollcheck bei ihrem Arzt anmeldete, gleich einen Termin für ihren Mann mitbesorgen, bevor sich Holger Stein in ärztliche Obhut begab.

Dann jedoch ging auf einmal alles ganz schnell. Der Hausarzt schickt den ehemaligen Polizisten umgehend ins Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Volksdorf. Dort macht Dr. Matthias Gasthaus, Chefarzt der „Klinik für Innere Medizin – Kardiologie“ zuerst einen Ultraschall von Steins Herz. Einige Tage später legt er einen Herzkatheter, den er bis zu der Aortenklappe schiebt. „Darüber gehen die Herzkranzgefäße ab, in die man dann ein Kontrastmittel spritzt“, erklärt der Kardiologe. So kann er dem Patienten zeigen, welche Gefäße bereits gefährlich verengt oder sogar komplett verschlossen sind.

Holger Stein hat es jetzt schwarz auf weiß, dass es so nicht weitergeht. „Das sieht ja ein Blinder auf den Aufnahmen, dass da mal was passiert ist“, sagt er. Sein bester Freund war vor zwei Jahren auf dem Fußballplatz gestorben. Im Mittelkreis. Das Herz.

Mit 58 Jahren ist Holger Stein in den Vorruhestand gegangen, „mit 60 wäre ich eh pensioniert worden“. Am Haus gibt es immer etwas zu tun, an den Häusern der Kinder ebenso. Und dann sind da ja auch noch die drei Enkel: Ida, 7, und Lina, 10, die sein Schwiegersohn mitgebracht hat. Und der fast zweijährige Felix, von seinem Sohn. Die Familie gebe ihm Kraft. „Ich bin hier der Hausmeister“, sagt Holger Stein und lacht.

„Opa, Keller!“ ist Felix’ liebster Satz, und dann muss der Großvater mit ihm hinunter, zur Modelleisenbahn. Doch die paar Stufen, mit dem Kleinen auf dem Arm, schaffen den muskulösen Mann zusehends. Dass er ins Krankenhaus muss, erzählt er seinem Enkel nicht. Doch dass er es muss, und zwar schnell, daran hat Kardiologe Gasthaus keine Zweifel gelassen. Und gleich einen Termin im Albertinen-Krankenhaus vereinbart.

Auch Herzchirurg Rieß ist niemand, der lange um eine Sache herumredet. „Das ist schon ein größerer Befund“, macht er Holger Stein beim Vorgespräch am 19. November 2013 klar. Am Morgen hat der Pensionär Zimmer 212 auf der Herzchirurgie-Station A2 im Albertinen-Krankenhaus bezogen. Am Nachmittag sitzt Friedrich-Christian Rieß vor ihm und malt ein Herz auf. „Durch den Infarkt ist Ihre linke Herzkammer in ihrer Pumpfunktion stark eingeschränkt und zugleich die Mitralklappe undicht geworden. Das Blut aus dem linken Vorhof fließt deshalb zurück in die Kammer. Das nennt sich ein Pendelvolumen“, erklärt er. Und zeichnet Striche auf der Skizze ein.

Eine „Nonsens-Arbeit“ sei das, was das Herz des Patienten dadurch leisten müsse. Es sei größer geworden, je schwächer es wurde. Der Versuch einer Kompensation. Doch eine gute Leistung ist mit derartigen Schäden nicht mehr zu erzielen.

Mechanistisch gesehen ist das Herz eine Pumpe, die bei einem durchschnittlich trainierten und durchschnittlich großen Menschen pro Tag rund 7000 Liter Blut durch den Körper pumpt. Mit dem Blut transportiert der Körper Nährstoffe und Sauerstoff zu den Organen. Der Mensch verfügt über zwei Blutkreisläufe: den großen Körperkreislauf, der von der linken Herzkammer versorgt wird, und den kleinen Lungenkreislauf, der von der rechten Herzkammer versorgt wird.

Holger Stein hört sich aufmerksam die Details an, die Rieß ihm zur Operation erklärt. Eine Sache liegt dem Patienten besonders auf dem Herzen: die Frage, ob und wie lange er an die Herz-Lungen-Maschine muss. „Zu 90 Prozent operiere ich ohne die Maschine“, erklärt Rieß. „Aber bei der Rekonstruktion der Mitralklappe geht es nicht ohne.“ Da muss das Herz stillstehen. Die Herz-Lungen-Maschine, ein Apparat mit langen Schläuchen und semipermeablen Membranen, durch die Sauerstoff ins Blut gelangen und Kohlendioxid aus dem Blut abgegeben werden kann, übernimmt in dieser Zeit die Aufgaben von Herz und Lunge.

Kein Herzschlag, keine Atmung – keine gute Vorstellung für Holger Stein. Es hat etwas davon, was unserer Vorstellung von „tot sein“ durchaus nahekommt. „Machen Sie sich darum nicht so große Gedanken“, beschwichtigt Rieß und versucht seinen Patienten mit einem ganz anderen Bild zu beruhigen: „Wenn wir wollten, könnten wir Sie währenddessen aufwecken, und Sie könnten ein Buch lesen.“ Holger Stein lacht. Und senkt den Blick. Ganz wohl ist ihm bei der Sache immer noch nicht.

Eines will er dann doch noch von seinem Operateur wissen: „Wie sieht es nach der OP mit meiner Lebenserwartung aus? Werde ich dann wirklich 90?“ Jetzt ist es Rieß, der lacht. Und dennoch ernst bleibt. „Ich halte es für unseriös, Patienten Prognosen auf Jahr und Tag zu machen.“ Ohne Operation, das ist klar, hätte Holger Stein nicht mehr lange zu leben. „Durch die erheblich eingeschränkte Pumpfunktion käme es zu einem Multi-Organ-Versagen, weil auch die Organe schlechter durchblutet werden“, sagt Rieß. „Und auch, wenn sich jetzt noch ein größeres Herzkranzgefäß zusetzen würde, wäre das das sichere Todesurteil – weil bei den vielen bereits verengten Gefäßen kein Ausgleich mehr möglich wäre.“ Durch die Operation werde zwar das Herz mehr oder weniger repariert. Wie es nach der OP weitergehe, sei jedoch auch abhängig davon, inwieweit Stein Risikofaktoren minimiere. Also Sport treibe, auf sein Gewicht achte. „Je weniger Blut transportiert werden muss, umso besser“, sagt Rieß. Denn die Blutmenge ist abhängig vom Gewicht: Ein durchschnittlich schwerer, gesunder, erwachsener Mensch hat ungefähr ein Blutvolumen von acht Prozent seines Gewichts.

Als Polizist, sagt Holger Stein, falle es einem nicht leicht, sich in fremde Hände zu geben. Jetzt muss er es. Gedanken daran, was wäre, wenn er nicht wieder aufwacht? Schulterzucken. „Verdränge ich.“ Am nächsten Morgen gibt es kein Nachdenken mehr. „Ich stehe die ganze Zeit unter Drogen“, sagt Holger Stein langsam, leise, fast wie im Halbschlaf, jedoch mit einem belustigten Unterton, als ihn Schwester Vanessa um kurz nach 6 Uhr weckt. Die Wirkung des Beruhigungsmittels vom Vorabend.

Ein kurzer Transport mit dem Bett innerhalb des Hauses, dann wird der Patient in der sogenannten Bettenschleuse übergeben, die in den sterilen OP-Bereich führt. Zeitgleich bis zu sieben Personen – Ärzte, Schwestern, Techniker – sind in den kommenden mehr als sieben Stunden an der Operation von Stein beteiligt. „Und wissen Sie, wie unmittelbar nach dem Eingriff der Erfolg einer Operation bemessen wird?“, fragt Friedrich-Christian Rieß und seufzt. „An der Optik der Narbe.“

Drei Stunden lebte er an der Maschine, ehe sein Herz wieder von allein schlug

Bevor es richtig losgehen kann, steht Joachim Kormann, Chefarzt der Kardioanästhesie, vor einem Problem, das ihm „in 20 Jahren noch nicht passiert“ ist: Der Ehering lässt sich nicht von Holger Steins Ringfinger ziehen. Läge er nicht schon in Narkose, hätte er noch erzählen können, dass er ihn selbst nicht mehr abbekommen hat. Runter muss er aber, da die Hand während der OP anschwellen und so der Ring, im schlimmsten Fall, den Finger abschnüren könnte. Da hilft nur eine Zange – für den Ring, versteht sich.

Was dann folgt, sind die Handgriffe eines eingespielten Teams rund um Professor Rieß, der in 30 Berufsjahren circa 10.000 Herzoperationen durchgeführt hat. Nach der Eröffnung des Brustkorbs durch die Durchtrennung des Brustbeins macht sich der Herzchirurg als Erstes an das Freipräparieren beider Brustwandarterien (auch Brustbeinschlagadern genannt) aus dem umliegenden Gewebe. Früher, erklärt Rieß dabei, habe man für die Bypässe – zur Überbrückung von verengten Herzkranzgefäßen – Venen genommen, meist aus dem Bein. Doch Arterien hätten sich über die Jahre für diese Aufgabe als besser geeignet erwiesen. Mittlerweile operiere er zu 99 Prozent ausschließlich mit Brustwandarterien.

Bei einer kompletten arteriellen Revaskularisation, also einer Bypassversorgung, wie sie Holger Stein bekommt, wird die rechte innere Brustbeinschlagader nach der Präparation herausgetrennt und so an der linken inneren Brustbeinschlagader vernäht, dass ein T entsteht. Die beiden Arterien können dann so an den Koronar-Ästen des Herzens vernäht werden, dass der Blutfluss an den krankheitsbedingt geschlossenen Gefäßen vorbeigeleitet wird – wie über Ausweichstrecken bei einer Autobahn mit Stau. Holger Stein benötigt an fünf Stellen eine solche Umleitung.

Um kurz nach 10 Uhr ist die Präparation für die Bypässe abgeschlossen, und das Operationsteam bereitet sich darauf vor, Holger Stein an die Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Bisher hat sein Herz selbstständig geschlagen, tief unten in seinem weit geöffneten Brustkorb. 600 bis 700 Gramm wiegt es, erklärt Rieß, und die leichte Fettschicht, die es umgibt, sei völlig normal. Auch wenn Anästhesist Kormann bei der Betrachtung der Körperdaten von Holger Stein – 89 Kilogramm, bei 1,72 Meter – etwas von „ein bisschen untergroß“ gemurmelt hat.

Mit einer sogenannten Kardioplegielösung (Kardioplegie heißt Herzlähmung) wird das Herz langsam ruhig gestellt, bis es ganz aufhört zu schlagen. Nun übernimmt die Maschine die Funktion von Herz und Lunge, überwacht von Kardiotechniker Robert Binczyk. Friedrich-Christian Rieß und Timo Haselbach, Assistenzarzt in der Ausbildung, machen sich daran, die Bypässe an das Herz anzunähen. „Dafür verwenden wir Fäden, die dünner sind als ein menschliches Haar“, sagt Rieß, der mithilfe einer Lupenbrille (4,5-fache Vergrößerung) operiert. Und ja, zu Hause sei er für das Annähen von Knöpfen zuständig, fügt er hinzu und lacht.

Dann geht es an die Herzklappen. Am Vortag hatte eine Ultraschalluntersuchung des Herzens von Holger Stein noch ergeben, dass nicht nur die Mitralklappe, sondern mittlerweile auch die drei Segel der Trikuspidalklappe nicht so schließen, wie sie sollten, und es dadurch zu einem erheblichen Blutrückstau in den rechten Vorhof kommt. Um die Klappen zu straffen, werden Rieß und Haselbach deshalb Ringe aus einer Metalllegierung implantieren, die die Klappenringe raffen; dadurch wird wieder ein kompletter Schluss der Klappensegel ermöglicht. „Durch schließende Klappen muten wir den Patienten nach der Operation natürlich erst einmal mehr zu, denn dadurch fällt für sie das ‚Überdruckventil‘ weg, das sie zuletzt gewohnt waren“, sagt Rieß.

Das Gröbste ist danach geschafft. Der Kardiologe amputiert nun noch das linke Herzohr, eine Ausstülpung am linken Vorhof des Herzens, da sich hier Gerinnsel sammeln können, die das Schlaganfallrisiko erhöhen. Und er brennt bei der sogenannten Radiofrequenzablation durch Strom Narben in die Vorhofwand des Herzens ein. „Narbengewebe ist elektrisch isolierend“, erklärt Rieß. So soll das Vorhofflimmern, das im Laufe des Lebens immer häufiger beobachtet wird, beseitigt beziehungsweise ein dauerhafter Sinusrhythmus des Herzens wiederhergestellt werden.

Seinen eigenen Rhythmus nimmt Holger Steins Herz um 13 Uhr wieder auf, nachdem er von der Herz-Lungen-Maschine abgekoppelt wurde. Das Herz schlägt nun wieder von allein – doch noch nicht so, wie die Ärzte es gern hätten: Die Herzkammern flimmern! Den regelmäßigen Rhythmus müssen sie nach dem Stillstand des Herzens erst einmal wieder initiieren. Dazu wird ein Defibrillator an Holger Steins Herz angelegt, der so aussieht, als bestünde er aus zwei übergroßen metallenen Kochlöffeln. Ein Stromstoß, und das Herz fällt in den gewünschten Sinusrhythmus – schöne, gleichmäßige Kurven. Die Ablation war also erfolgreich.

Chirurg Rieß ist äußerst zufrieden mit dem Operationsergebnis. „Beide Herzklappen schließen wieder absolut dicht“, freut er sich. Von dem bisher in der Operation verwendeten extrem feinen Garn wechselt Rieß nun auf ein gröberes Kaliber: Mit Sternum-Drähten und einem noch massiveren, metallenen Sternum-Band wird das Brustbein wieder zusammengezogen. Um drei Minuten nach drei wird Holger Stein aus dem OP geschoben.

Nach dem Aufwachen „wuchs plötzlich Rasen auf meiner Bettdecke“

Etwas mehr als sieben Stunden Operation liegen hinter Patient und Team. Sieben Stunden – und der Schritt in ein Leben, das weitergehen kann. Während Holger Stein auf der Intensivstation versorgt wird, erledigt Friedrich-Christian Rieß schnell noch den Schriftkram. „Das Herz ist schon ein genial gebautes Organ“, sagt er. „Wenn man bedenkt, dass es etwa 60-mal in der Minute schlägt, sind das durchschnittlich 2,3 Milliarden Schläge in einem Menschenleben. Da wird man doch andächtig.“ Seine Teichpumpe, fügt er noch an, gehe alle zwei Jahre kaputt.

So gesehen haben die meisten Patienten, die bei ihm auf dem OP-Tisch landen, doch eine lange, reibungslose „Laufzeit“ ihrer körpereigenen Pumpe gehabt, bevor es zu den Problemen kam. Und haben sie hoffentlich nach dem Eingriff auch wieder vor sich. Von einem so glatten Verlauf der Operation bei Holger Stein, sagt der Chirurg jetzt, war er noch am Vorabend nicht ganz überzeugt. Jedenfalls nicht von dem Moment an, als mit der Trikuspidalklappe noch eine weitere „Baustelle“ hinzukam. „Und auch bei Herrn Stein kippte da die Stimmung“, berichtet Rieß. „Er wurde ängstlicher.“ Herzoperationen, weiß der Chefarzt, sind Operationen mit einem hohen Angstpotenzial. Das Herz ist nun einmal etwas Besonderes.

Keine Angst, aber wirre Vorstellungen plagen Holger Stein nach dem Aufwachen aus der Narkose. „Plötzlich wuchs Rasen auf meiner Bettdecke“, erzählt er Ehefrau Marianne zwei Tage später auf Station. Auch die Tapete kam plötzlich von den Wänden, dafür zierte auf einmal ein riesiger Stadtplan eine Wand. „Wir belasten die Patienten um die Operation herum mit vielen Medikamenten, die zum Teil auch unerwünschte Nebenwirkungen haben“, erklärt Rieß die Wahnvorstellungen, die sich bei Holger Stein aber schnell legen.

Von einer Veränderung seines Herzens, sagt der Ammersbeker, merke er so unmittelbar nichts. Die große vertikale Narbe auf seinem Brustkorb, die Drainage-Schläuche, die das Wundwasser ableiten, und die Schmerzen, die er verspürt, wenn er sich zu sehr verdreht oder husten oder niesen muss, erinnern ihn jedoch eindringlich an das, was er hinter sich gebracht hat. „Es dauert meist ein Vierteljahr, bis der Herzmuskel von dem Eingriff profitiert“, erklärt ihm Rieß bei der Visite.

Und es dauert über die Zeit im Krankenhaus hinaus, bis Holger Stein überhaupt wieder halbwegs auf den Beinen ist. Drei Wochen nach der Operation und damit in seiner zweiten Woche der Rehabilitation in der Curschmann-Klinik in Timmendorfer Strand fällt ihm das Gehen noch immer schwer. Eben mal kurz an den Strand – nur einmal um das Haus herum –, und schon muss sich der pensionierte Polizist wieder setzen. Dabei hat er bereits ordentlich Ballast abgeworfen: „Herr Stein hatte durch seine Herzerkrankung und den Einsatz der Herz-Lungen-Maschine zehn bis zwölf Liter Wasser im Körper eingelagert, das meiste davon hat er durch Medikamente über die Nieren schon wieder ausgeschieden“, sagt Chefarzt Professor Bernhard Schwaab.

Seine geliebte Tiefkühlpizza wird er nur noch selten sehen

In der unter anderem auf Kardiologie spezialisierten Reha-Einrichtung gibt es deshalb für Holger Stein zwei vorrangige Aufgaben: entwässern – und Physiotherapie. „Ich bin heute schon über die Alpen gefahren“, sagt der Pensionär und grinst verschmitzt. Das Ergometer im Fitnessraum zeigt auf dem Bildschirm verschiedene Routen an. Dennoch ist sich Stein bewusst: „Das sind keine Sprünge, die man hier macht, sondern stetige, kleine Schritte.“

Die Reha-Klinik an diesem Standort war sein großer Wunsch. „Die Weite, das Wasser – ich muss gucken können“, sagt er. Deshalb steht neben der großen Fensterfront seines Zimmers zur Ostsee raus auch ein Fernglas. Die Buchstaben- und Zahlenkombinationen der aus- und einlaufenden Kriegsschiffe notiert er sich und guckt sie im Internet nach. Gerade kommt F362 rein, eine dänische Fregatte.

Mit seinen Kindern habe er damals hier am Strand gespielt, als diese Klinik gebaut wurde, sagt Holger Stein. Sein Blick löst sich vom Horizont und ruht für einen langen Moment auf seinen Fußspitzen. Er habe vor der Operation viel verdrängt. Hier denke er nun mehr über sich nach als er es vorher angenommen habe, sagt er dann. Die Argumente von Professor Rieß für die Operation seien gut gewesen. Direkt nach der OP habe er sich jedoch hilflos gefühlt. „Weil ich selbst bestimmen möchte, wo es langgeht. Zumindest die grobe Richtung.“ Das Angewiesensein auf andere Menschen ist seine Sache nicht.

Fünf Tage vor Weihnachten, einen Monat nach der Operation, ist Holger Stein wieder zu Hause in Ammersbek. Die Feiertage über will es die Familie ruhig angehen lassen. „Meinen 65. Geburtstag im Juni haben wir ausfallen lassen, da ging es mir ja schon so schlecht“, sagt Holger Stein. „Aber das holen wir nächstes Jahr nach. Denn mit 66 Jahren...“ Genau.

Auch Marianne Stein denkt pragmatisch. Als Weihnachtsgeschenk gibt es den reparierten – und jetzt etwas größeren – Ehering für ihren Mann. Und ein Kochbuch von den Kindern: „Kochen fürs Herz – herzfreundliche Gerichte“. Holger Stein verdreht die Augen. Seine geliebte Tiefkühlpizza und er werden sich jetzt nicht mehr ganz so oft sehen wie bisher. Aber das ist nicht seine größte Sorge. Erst einmal muss er wieder der Alte werden. Doch dazu braucht er Geduld.

Wie schlecht es um ihn stand, hat Stein bis heute nicht ganz verinnerlicht

Drei Monate später. Der März 2014 ist sonnig und schon erstaunlich warm. Es gibt Kaffee und Kuchen auf der Terrasse, mit Blick auf die angrenzenden Weiden. Holger Stein strahlt. „Ich habe keine Wundschmerzen mehr, kann wieder niesen und husten ohne Probleme, und Treppensteigen und Radfahren gehen auch wieder“, sagt er. Und man sieht ihm an, wie sehr ihn das erleichtert. Die Luftnot vor der Operation – nur noch eine böse Erinnerung. „Das war das Schlimmste. Ich hatte richtig Angst vor dem nächsten Hustenanfall“, sagt er.

Eine große Runde auf dem Golfplatz würde er zwar noch nicht wieder drehen. Aber auf der driving range „ein wenig durchschwingen“. Bei Professor Rieß sei er nicht noch einmal gewesen, „es gab keine Vorladung“, sagt Holger Stein und lacht. Nur seinen Hausarzt sieht er regelmäßig: Hier wird wöchentlich die Dosis des Blutverdünners Marcumar eingestellt, den er nehmen muss. Neben sieben, acht weiteren Medikamenten. Wofür? „Das weiß meine Frau besser.“

Marianne Stein ist es auch, die ihren Mann zum Sport animieren will. Da doch nicht zuletzt die Tochter zu ihr gesagt hat: „Du musst auf Papa aufpassen.“ Das tut Marianne Stein schon von sich aus – auch wenn es keine einfache Aufgabe ist, wie sich zeigt. „Ich gehe zur Koronar-Sportgruppe“, sagt sie an diesem Nachmittag zu ihrem Mann und guckt ihn auffordernd an. „Da kannst du gerne hingehen“, antwortet Holger Stein. Damit ist das Thema für ihn erledigt.

Das Leben komplett auf die Erkrankung abzustimmen, die Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten zu ändern fällt vielen Patienten nicht leicht. Nachhilfe bekommt Holger Stein von seiner Familie, die ihm zum 66. Geburtstag Ende Juni ein neues Fahrrad schenkt. Auch wenn ihm dann doch nicht nach einer großen Sause war, sondern im kleinen Kreis gefeiert wird, kommt das Fahrrad gut an. „Dadurch und durch meinen Ergotrainer habe ich abgenommen“, erzählt Holger Stein Anfang November stolz, als der erste Jahrestag seiner Operation näher rückt.

Zu 90 bis 95 Prozent sei er wiederhergestellt, resümiert er. Und wenn er auch noch nicht wieder auf die 18-Loch-Runde beim Golf gehe, klappten neun Löcher mittlerweile doch schon ganz gut. Ein wenig Enttäuschung, bedingt durch eine ganz große Portion Ungeduld, schwingt dabei in seiner Stimme mit. Zwar sei er in der Reha in Timmendorfer Strand zu der Erkenntnis gekommen, dass es die absolut richtige Entscheidung war, sich operieren zu lassen, sagt Holger Stein. Doch so ganz verinnerlicht, wie schlecht es vor der Operation um ihn stand, hat er dann doch noch nicht. „Dazu ging es mir vorher vielleicht auch noch nicht schlecht genug...“, sagt der Ammersbeker.

Einen Dankesbrief hat seine Familie jedoch mit ihm zusammen im Urlaub, am Strand in Dänemark, an Professor Rieß aufgesetzt. Vielleicht kann Marianne Stein es besser in Worte fassen, was die gelungene Operation, was die Reparatur von Holger Steins Herz und damit letztendlich die Rettung seines Lebens für die Familie bedeutet: „Uns ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen.“