Der Psychoanalytiker Felix de Mendelssohn rät, sich mit den Träumen auseinanderzusetzen. Im Buch „Der Mann, der sein Leben einem Traum verdankte: Ein Traumforscher erzählt“ ist jetzt erschienen.

Berlin. Unter Traumforschern, da gibt es die Traumdeuter, die Oneirologen. Sigmund Freud war so einer. Seine Ausgangsthese lautete: Es träumt einem nichts einfach nur so. Träume können einen Sinn haben, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt. Der Berliner Psychoanalytiker Felix de Mendelssohn führt seit mehr als 40 Jahren Traumtagebuch. Wer sich mit seinen Träumen auseinandersetzt, sagt er, der lebt bewusster.

Hamburger Abendblatt: Ich habe mir vergangene Nacht in Hinblick auf dieses Interview große Mühe gegeben, mir meinen Traum zu merken. Alles, was ich noch weiß, ist, dass ich von einem Sieb träumte. Auf dem Sieb lagen Steine. Darüber war ein helles Pulver – die zermahlenen Zähne meines verstorbenen Großvaters.

Felix de Mendelssohn: Sie wollen wissen, was das bedeuten könnte?

Genau. Was erfahren Sie durch diesen Traum über mich?

de Mendelssohn: Da müssten wir uns jetzt näher mit Ihnen auseinandersetzen. Träume lassen sich nicht, wie das in esoterischen Lebensratsgebern oft propagiert wird, pauschal deuten.

Sie meinen, eine Taube steht nicht unbedingt für Frieden. Ein Schwamm nicht unbedingt für Reinlichkeit. Und die zermahlenen Zähne meines Großvaters nicht unbedingt für …

de Mendelssohn: Ein Lexikon kann ihre Träume nicht deuten. Das muss man selber leisten. Assoziieren. Das Fragmentarische zum Ganzen machen. Durch diese Assoziationen lernt man etwas über sich. Ich müsste nun fragen: Wissen Sie, um welchen Ihrer beiden Großväter es sich handelt? Wie standen Sie zu dem? Welche Rolle spielte er in Ihrer Lebensgeschichte? Und das Sieb als Ort – Sie sagten, Sie wollten sich für diese Interviewsituation Ihren Traum merken. Wenn Sie mit dieser Idee schlafen gegangen sind: Vielleicht hatten Sie Angst, den Traum zu vergessen?

Möglich. Aber würde das nicht bedeuten, dass mein Unbewusstes – oder generell das menschliche Unbewusste – in Metaphern denkt? Warum sollte es das tun?

de Mendelssohn: Das Unbewusste stellt Vergleiche her, Relationen. Im Traum etwa vergleichen wir gegenwärtige mit früheren Situationen, vor allem in Bezug auf ihre emotionale Ladung. Genau das ist auch die Funktion von Metaphern. Aristoteles meinte, der beste Traumdeuter sei einer, der gut in Metaphern denken kann.

Kürzlich saß ich im Traum neben Beate Zschäpe. In einer Bahnhofshalle. Sie redete laut, alle ignorierten sie. Ich hörte ihr zu und dachte, was sie sagt, stimmt, ich werde sie nicht ignorieren, nur weil sie Beate Zschäpe ist. Also unterhielten wir uns, und ich wachte mit dem irritierenden Gefühl auf: Beate Zschäpe – das ist eine nette Frau.

de Mendelssohn: Das verwundert mich nicht. In den 80er-Jahren hatte ich in meiner Wiener Praxis viele männliche Patienten, die mir gestanden, von Jörg Haider geträumt zu haben. Und die waren keine Haider-Anhänger. Im Gegenteil. Aber im Traum erschien ihnen der Rechtspopulist freundlich. Sie hegten eine geheime Bewunderung für seinen schnellen Aufstieg. Auch ich träumte mal von Haider, ich traf ihm bei einem Gruppendynamikseminar. Er knüpfte Netzwerke. Meine Frau war auch da, ich verteidigte ihn vor ihr, sagte: „Das ist doch legitim, was er da macht.“ Freud ging davon aus, dass jeder Traum zutiefst egoistisch ist und ausschließlich die eigene Person behandelt. Ich würde ihm so weit zustimmen, als dass ich sagen würde, wenn Sie im Traum mal die Freundin einer Terroristin sein wollen oder einen Rechtspopulisten bewundern, dann geht es dabei nicht um die berühmten Personen an sich, sondern um Aspekte an ihnen, die wir bewundern. Im Wachzustand würde man so etwas nicht äußern. Aber im Schlaf zensieren wir nicht.

Wie bei diesen sexuellen Träumen, in denen man mit Menschen schläft, mit denen der Verkehr im echten Leben undenkbar – ja sogar unethisch – wäre?

de Mendelssohn: Unsere Träume können uns auch die dunklen, gern verdrängten Seiten unseres Trieblebens enthüllen. Aber es gibt natürlich auch Sexträume, bei denen es gar nicht um den Sex an sich geht, sondern um die Intimität oder gar die Verschmelzung mit der dargestellten Person. Schläft man mit seinem Vater, bedeutet das vielleicht, dass man ihm gerne wieder näher stünde. Es kann aber auch bedeuten, dass man die Charaktereigenschaften, die diese Person für uns verkörpert, gerne selber verkörpern würde.

Wenn die Analyse von Träumen nützlich ist: Warum vergessen wir sie normalerweise nach dem Aufwachen?

de Mendelssohn: Das hat mit unserem heutigen Schlafrhythmus zu tun. Acht Stunden, dann klingelt der Wecker. Wir beschäftigen uns kaum mit unserem Schlaf. Was zählt in unserer Gesellschaft ist die Wachzeit. Das war aber nicht immer so. Die Naturvölker schliefen in großen Gruppen zusammen. Alle paar Stunden wurden sie wach, oftmals erzählten sie sich dann ihre Träume. Der erzählte Traum wurde erinnert. Das Teilen der Träume hatte eine soziale Funktion. Heute ist das kaum noch üblich. Sollte es aber sein. Reden Sie mit vertrauten Personen über Ihre Träume.

Vielen Menschen kommt es so vor, als würden sie häufig traumfrei schlafen.

de Mendelssohn: Man träumt jede Nacht. In der Regel beginnt alle zwei bis drei Stunden ein neuer Traum. Die Schlafforscherin Rosalind Cartwright hat ihre Probanden im Schlaflabor einst alle zwei Stunden aufgeweckt. Sie konnte festhalten: Die ersten Träume einer Nacht behandeln meist einen aktuellen Konflikt. Dann werden die Träume komplexer und versuchen diese Konflikte mit anderen Sachen, Themen zu vergleichen. Die letzten Träume der Nacht sind häufig ein Versuch, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.

Was sind die häufigsten Träume? Was eint uns alle im Schlaf?

de Mendelssohn: Häuser tauchen im den Traumwelten aller Menschen auf. Verbreitet sind auch die berühmten Angstträume: Man wird verfolgt. Man ist plötzlich nackt. Oder fällt. Ein Freund oder ein Verwandter stirbt. Prüfungsträume. Flugträume.

Sie haben Ihre Träume aus 40 Jahren aufgeschrieben. Verraten Sie uns Ihren eindringlichsten Traum?

de Mendelssohn: Oh, nein (lacht). Das war ein sexueller Traum, der Traum einer sexuellen Utopie. Nichts wofür man sich schämen muss. Aber die Einzelheiten möchte ich an dieser Stelle, im Wachzustand, dann doch zensieren.

Zum Weiterlesen: „Der Mann, der sein Leben einem Traum verdankte: Ein Traumforscher erzählt“, Felix de Mendelssohn, Ecowin Verlag, 22,95 Euro