69 Prozent der als natürlicher Tod ausgewiesenen Fälle entpuppten sich als nicht natürlich oder ungeklärt. Justizminister wollen Appell beschließen

Hannover/Hamburg. Die Leichenschau ist so etwas wie der letzte Dienst des Arztes am Patienten. Schon deshalb sei diese Untersuchung der sterblichen Überreste eines Menschen „nicht ganz unwichtig“, sagt Michael Klintschar, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Hannover. Der Professor führt noch einen weiteren Grund an, nämlich die Aufklärung von Gewaltverbrechen: „Denn wer wird schon gern umgebracht?“

Und weil Tote nicht mehr reden können, ist es umso wichtiger, dass die Ärzte bei der finalen Diagnose ganz genau hinschauen. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin hat eigens „Leitlinien zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau“ entwickelt, die neben einer sicheren Feststellung des Ablebens eine akribische Analyse von Art und Ursache des Todes gewährleisten sollen.

Danach hat die Untersuchung mit der gleichen Sorgfalt zu erfolgen wie bei lebenden Patienten. „Die Leichenschau ist ein Akt hoher ärztlicher Verantwortung“, heißt es in den Leitlinien. „Denn mit der Ausstellung des Totenscheins werden die Weichen gestellt, ob die Leiche ohne weitere Kontrolle bestattet wird oder ob Ermittlungen im Hinblick auf einen unnatürlichen Tod erforderlich sind.“ Dem Arzt werden detaillierte Vorgaben gemacht. Er muss „sich bei ausreichender Beleuchtung Gewissheit über den Eintritt des Todes verschaffen“. In der Regel sei „die Entkleidung des Leichnams unabdingbar“, um Vorder- und Rückseite des Körpers systematisch inspizieren und Todeszeichen feststellen zu können. Als solche Zeichen gelten Totenflecke, Totenstarre, Fäulnis und „Verletzungen, die mit dem Leben unvereinbar sind“.

So weit die Theorie. In der Praxis läuft es gelegentlich anders. Zum Beispiel im hessischen Geisenheim. Da war ein 66-jähriger Mann tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Der Notarzt stellte einen natürlichen Tod fest. Die Blutlache am Kopf? Nicht weiter auffällig, der Verstorbene litt an Hämophilie, der Bluterkrankheit. Das Hämatom am Auge? Eine Sturzverletzung. Der Mann wurde bestattet. Es war ein Zufall, dass zwei Wochen später der 20-jährige Enkel der Lebensgefährtin des Opfers wegen Betrugs festgenommen wurde – und bei der Vernehmung in einem Anfall von Reue gestand, er habe übrigens auch noch seinen Stief-Opa mit dem Messer erstochen. Vier Stichwunden am Hals – das ist zweifellos eine „Verletzung, die mit dem Leben unvereinbar ist“ und schon mit einem überschaubaren Aufwand an Sorgfalt zu entdecken gewesen wäre. Wurde sie aber nicht.

Eine krasse Ausnahme? Wer sich mit Rechtsmedizinern unterhält oder ihre Schriften liest, der kommt zu der Erkenntnis: Schlampereien bei Leichenschauen sind bundesweit ein Problem. Die Fachleute sind sich einig, dass die Akribie der Ärzte bei ihrem letzten Dienst am Menschen zu wünschen übrig lässt. So hat das Institut für Rechtsmedizin in Hannover in einer gerade fertiggestellten Studie die in Leichenschauen festgestellten Todesursachen mit Obduktionsergebnissen verglichen. Das Ergebnis: Die Angaben auf dem Totenschein gleichen einer Lotterie. Von den als natürlicher Tod ausgewiesenen Fällen entpuppten sich 69 Prozent als nicht natürlich oder ungeklärt. Umkehrt waren von den als nicht natürlich ausgewiesenen Todesfällen 35 Prozent natürlich oder ungeklärt.

Klaus Püschel, Direktor des Zentrums für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), legte jüngst eine Studie vor, die ähnliche Defizite bei Leichenschauen niedergelassener Hausärzte in Hamburg ermittelte. Und Britta Bockholdt, Chefin des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Greifswald, konstatiert, dass in Mecklenburg-Vorpommern der Totenschein jeder 20. Leiche fehlerhaft sei. Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité, hatte vor einigen Wochen selbst einen Leichnam auf dem Tisch „mit zig Messerstichen im Brustraum, bei dem der Notarzt einen natürlichen Tod diagnostiziert hatte“.

Der Rechtsmediziner verweist auf ältere Untersuchungen mit noch bedenklicheren Ergebnissen. Danach weist deutschlandweit etwa jede zweite Todesbescheinigung Fehler auf, jedes zweite Tötungsdelikt bleibt unentdeckt. In absoluten Zahlen heißt das: Mehr als 10.000 nicht natürliche Todesfälle pro Jahr bleiben unerkannt, darunter mindestens 1200 Tötungsdelikte. „Der Hauptgrund dafür, dass nachweislich 50 Prozent der Diagnosen auf den Todesbescheinigungen falsch sind, ist mangelhafte Kenntnis und oft auch fehlende Erfahrung der leichenschauenden Ärzte“, sagt Tsokos. Jeder approbierte Arzt darf Leichenschauen durchführen, also auch Kinder- und Augenärzte oder Orthopäden. In den meisten Fällen stellen Haus- und Notärzte die Totenscheine aus. Besonders qualifiziert sind sie dafür nicht – anders als die Rechtsmediziner. Aber von denen gibt es nur etwa 230, und sie bekommen nur etwa sieben Prozent der jährlich rund 870.000 Verstorbenen in Deutschland zur Untersuchung überwiesen.

Zur mangelnden Qualifikation der Leichenbeschauer kommen die oft schwierigen äußeren Umstände der Untersuchung. „Vielleicht ist das Licht schlecht oder der Arzt möchte im Beisein der trauernden Angehörigen die Leiche nicht ausziehen, umdrehen und gründlich untersuchen", sagt Tsokos. Und die Mediziner beklagen, dass die Leichenschau schlecht honoriert wird, laut Gebührenordnung mit derzeit 33,51 Euro plus Wegegeld. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Für jeden verbeulten Kotflügel wird in Deutschland mehr Aufwand betrieben als für einen toten Menschen.

Die Politik hat das Problem durchaus erkannt. So will die Justizministerkonferenz an diesem Donnerstag einen Appell zur Verbesserung der Qualität von Leichenschauen beschließen. „Straftaten können nur dann aufgeklärt werden, wenn sie auch als solche erkannt werden“, sagte die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU). Derzeit gerieten Mediziner, „die nicht Rechtsmediziner sind, schnell an ihre Grenzen“. Das Thema gewinne auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels „und der Sorge vieler Menschen vor Gewalt in der häuslichen Pflege im Alter“ an Relevanz.

Die Frage ist nur, ob der Appell gehört wird. Bereits 2009 haben die Justizminister einen Forderungskatalog zur Professionalisierung der Leichenschau vorgelegt. Passiert ist nichts. Die einzige Forderung mit Aussicht auf Erfolg scheint die bessere Honorierung der Ärzte. Denn die Kosten für eine Leichenschau werden nicht von den Krankenkassen übernommen, sondern von den Hinterbliebenen. Damit die Mediziner bei ihrem letzten Dienst am Patienten weniger schlampen, könnte das Sterben für die Erben teurer werden.