Bei vielen der bisher 350 schwer kranken oder toten Tiere an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins wurde ein Influenzavirus entdeckt

Tönning. Spaziergängern an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins bietet sich seit Anfang Oktober immer wieder ein trauriger Anblick: An den Stränden von Helgoland, Sylt, Amrum und Föhr wurden bisher 350 schwer kranke oder tote Seehunde gefunden. Erste Untersuchungen zeigen jetzt, dass die Tiere an Lungenentzündungen gestorben sind und nicht, wie befürchtet, durch das Robben-Staupevirus, das vor zwölf Jahren zu einem Massensterben der Seehunde geführt hatte. Ein Überblick, was man über die neue Krankheitswelle wissen muss.

Woran sind die Seehunde gestorben?

Die Untersuchungen in der vergangenen Woche haben bisher ergeben, dass die Tiere an Lungenentzündungen erkrankt sind. Für die Tiere sei es ein qualvoller Tod gewesen, denn ihre Atemwege – Luftröhre und Bronchien – seien „zugeschleimt“ gewesen, sagte Prof. Ursula Siebert von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover. Neben Lungenwürmern fanden die Tiermediziner auch Bakterien wie Streptokokken. Bei einem großen Teil der untersuchten Seehunde wurde ein Influenzavirus festgestellt. Ob dieser hauptsächlich zu der Lungenentzündung geführt hat, kann noch nicht abschließend beantwortet werden. In den kommenden Wochen würden weitere Untersuchungen zu dem Virus durchgeführt. Auch in dänischen und schwedischen Gewässern wurden im Sommer vermehrte Todesfälle bei Seehunden registriert. Auch dort wurde bei sechs Tieren Influenza nachgewiesen. Das Robben-Staupevirus wurde weder dort noch bei den in Schleswig-Holstein gestorbenen Tieren nachgewiesen.

Wer hat die Tiere untersucht?

Die Tiere waren von verschiedenen Standorten zur Untersuchung an Institute der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover in Büsum und Hannover gebracht worden. Hier wurden sie im Institut für Pathologie, im Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) und im Research Center for Emerging Infections and Zoonoses (RIZ) untersucht.

Wie viele Seehunde leben im Wattenmeer?

Bei den Zählflügen im Sommer 2013 wurden im gesamten Wattenmeer 26.788 Seehunde gesichtet, etwa zwei Prozent mehr als im Vorjahr. 8342 Tiere waren es im schleswig-holsteinischen Wattenmeer, 8082 in Niedersachsen/Hamburg, 7605 in den Niederlanden und 2759 in Dänemark. Im Vergleich zum Vorjahr kamen im östlichen Bereich (Schleswig-Holstein und Dänemark) weniger Tiere vor, im westlichen dagegen mehr. Deshalb müssten die Wattenmeer-Seehunde als ein Bestand betrachtet werden, schreibt das Gemeinsame Wattenmeersekretariat in Wilhelmshaven, das die Daten der drei Anrainerstaaten sammelt und auch ansonsten den Naturschutz koordiniert. Da die Biologen damit rechnen, dass sich fast ein Drittel der Robben bei den Zählflügen im Wasser befindet und daher nicht erfasst werden kann, multiplizieren die Wissenschaftler die Zählungen mit einem Korrekturfaktor. Demnach leben rund 39.400 Seehunde im Wattenmeer. Hinzu kommen jährlich rund 7000 Jungtiere.

Ist der Bestand der Tiere durch eine Verbreitung des Influenzavirus bedroht?

Der Wattenmeerbestand der Seehunde ist nach Einschätzung der Fachleute durch das aktuelle Seehundsterben nicht gefährdet. „Wir gehen davon aus, dass die Seehundgrippe ein natürlicher Vorgang ist. Unsere Nationalparks sind Orte, an denen natürliche Prozesse gewollt sind. Auch der Tod ist Teil der Natur“, sagte Detlef Hansen, Leiter der Nationalparkverwaltung im Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz. Außerdem sei es „keine Epidemie, sondern eine leicht erhöhte Sterblichkeit“, sagte Siebert.

Wann gab es das vorerst letzte Robbensterben?

Im Sommer 2002 brach eine Staupe-Epidemie aus, die im Wattenmeer fast 10.700 Seehunden und 22 Kegelrobben das Leben kostete. In der gesamten Nordsee starben 22.500 Seehunde, davon fast 7000 im Skagerrak und Kattegat und weitere rund 4000 Tiere an der Küste Großbritanniens. Ein weiteres Robbensterben ereignete sich 1988. Auch damals schlug das bis dahin noch unbekannte Staupevirus zu. Rund 18.000 Seehunde starben, etwa 8600 im Wattenmeer.

Wie wirkt das Staupevirus?

Der Erreger Phocine Distemper Virus (Robben-Staupevirus), kurz PDV, wird durch Tröpfcheninfektion übertragen. Er befällt zunächst die Lunge, dann andere Organe und das zentrale Nervensystem, begleitet durch heftige Fieberanfälle. Das PD-Virus schwächt das Immunsystem der Tiere, die dann oftmals an Folgeerkrankungen, etwa Lungenentzündung, sterben. Tiere, die die Erkrankung überlebt haben, sind gegen den Erreger immun. Allerdings haben Blutanalysen gezeigt, dass vor einigen Jahren nur noch 20 Prozent der Seehunde gegen das Virus immun waren.

Sind die Staupe- oder Influenzaviren der Seehunde für Menschen gefährlich?

Nein. Aber Hunde und Katzen können sich infizieren. Sie sollten von toten und erst recht von erkrankten Tieren ferngehalten werden. Aber auch Menschen sollten Abstand wahren. Denn die Robben haben häufig zusätzlich bakterielle Infektionen oder Parasiten, die möglicherweise auch Menschen anstecken können.

Welche Rolle spielen Umweltgifte?

Bei den Epidemien 2002 und 1988 galt die Schadstoffbelastung als Mitverursacher der hohen Todesrate. Denn Umweltgifte schädigen das Immunsystem der Robben und machen sie anfällig für Krankheiten. Heute hat die Schadstoffbelastung, etwa der Nordsee, zwar abgenommen. Doch Seehunde stehen am Ende der marinen Nahrungskette und nehmen beim Fressen von Fischen und anderem Meeresgetier Schadstoffe auf, die sich in ihren Körpern konzentrieren. Deshalb gelten die Robben auch heute noch als belastet.

Warum kümmern sich Seehundjäger um die erkrankten oder toten Tiere?

Seehunde sind geschützt und dürfen nicht bejagt werden, sie unterliegen jedoch dem Jagdrecht. Deshalb kümmern sich in Schleswig-Holstein rund 40 speziell geschulte Seehundjäger – die aus traditionellen Gründen diesen Namen behalten haben – um die kranken oder toten Tiere.

Wie geht es jetzt weiter?

Der Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz und die Seehundjäger seien vorbereitet, falls sich das Seehundsterben verstärken sollte, sagt Hansen: „Mit den anderen beteiligten Behörden und Institutionen haben wir den bei der Staupe-Epidemie bewährten Aktionsplan mit dem Ampelsystem Grün-Gelb-Rot weiterentwickelt. Er legt für die gesamte Westküste fest, wie auch größere Mengen toter Tiere geborgen und entsorgt werden. Wir sind jetzt bei Stufe Grün, bei der noch alles mit der üblichen Logistik zu bewältigen ist.“ Die meiste Arbeit leisteten die ehrenamtlichen Seehundjäger. Mitunter müssen sie kranke Tiere von ihren Leiden erlösen.