Hamburger Forscher entwickeln Computermodell, das die Verteilung der Erreger über den HVV simuliert. Ziel ist, eine Ausbreitung einzudämmen

Hamburg. Acht Uhr morgens: In den Hamburger Bahnen und Bussen drängeln sich die Berufstätigen auf dem Weg zur Arbeit. Bei zunehmend feuchtkalter Witterung erhöht sich die Gefahr, dass unter den Passagieren Fahrgäste sind, die sich mit Grippeviren infiziert haben. Für die Mitfahrer steigt damit das Risiko, sich anzustecken, etwa wenn sie Haltegriffe anfassen, die zuvor ein Keimträger benutzt hat, oder wenn ein Grippekranker niest. Wie sich Influenzaviren über die Hamburger U-Bahnen ausbreiten können, lässt sich jetzt am Computer beobachten: mit einem Simulationsmodell, das Epidemiologen und Informatiker der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) entwickelt haben.

25.000 virtuelle Hamburger lässt das Team um Prof. Thomas Thiel-Clemen von der Fakultät Technik und Informatik durch Hamburg fahren. Die Forscher haben die Fahrgäste möglichst weitgehend individualisiert, ohne dass sie realen Personen zugeordnet werden können. „Wir haben Statistiken derjenigen Stadtteile ausgewertet, die an den Linien U1, U2 und U3 liegen. Wir kennen das Alter jeder virtuellen Person, ihr Geschlecht und wissen, ob sie berufstätig oder arbeitslos ist. Zudem ist bekannt, ob sie zur Arbeit fährt oder in der Freizeit unterwegs ist“, sagt Thiel-Clemen. Er nennt die Passagiere „Agenten“ und den Rechenlauf des Computermodells eine „Multi-Agenten-Simulation“.

Das Modell stellt die Fahrgäste in der morgendlichen Rushhour als hellgrüne Punkte dar, die an den einzelnen Stationen ein- und aussteigen, sich setzen oder im Gang stehen. Ab und an taucht ein roter Punkt auf: ein infizierter Passagier. Diese Eigenschaft wird, wie auch die anderen individuellen Merkmale, anhand von statistischen Daten anteilsmäßig auf die Gesamtzahl der 25.000 Agenten verteilt. Steigt die Zahl der Erkrankten, tauchen mehr rote Punkte in den virtuellen U-Bahn-Waggons auf.

Nun wird es interessant. Die Simulation errechnet die Übertragung der Krankheitserreger auf andere Mitfahrer. Hier kommt die Epidemiologie ins Spiel. „Influenzaviren mögen hohe Luftfeuchte und Temperaturen, die leicht über dem Gefrierpunkt liegen“, sagt Prof. Ralf Reintjes vom Fachbereich Life Sciences (Lebenswissenschaften). „Wir haben bereits ein gutes Verständnis über die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Zusammen mit dem Wissen der Informatik haben wir das Simulationsmodell erarbeitet. Wir können mit ihm Szenarien, also mögliche Verläufe der Ausbreitung einer Grippewelle berechnen. Wir können mit dem Modell aber auch verschiedene Maßnahmen testen, etwa den Effekt einer verdoppelten Impfrate oder von speziellen Hygieneanstrengungen der U-Bahn-Betreiber erkennen.“

Dazu muss zunächst klar sein, welche Rolle die U-Bahnen bei der Infektion mit Grippeviren spielen. In dem HAW-Modell stecken sich vor allem Erwachsene in den öffentlichen Verkehrsmitteln an: Diese sind unter den verschiedenen Infektionswegen etwa mit 50 Prozent beteiligt, aufgeteilt in 20 Prozent durch niesende Infektionsträger und 30 Prozent über die Berührung von Haltegriffen. Bei Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen spielen Kindergärten und Schulen die Hauptrolle. Rentner, die seltener U-Bahn fahren, stecken sich vor allem zu Hause an, bei Nachbarn, Zustellern, Besuchern. Allgemein weniger bedeutende Infektionsquellen sind der Arbeitsplatz und das Freizeitverhalten, etwa Sport oder der Besuch von Großveranstaltungen.

„Interessanterweise spielt es in der Bahn keine Rolle, ob ein Fahrgast sich besonders vorsichtig verhält und beispielsweise versucht, beim Ein- und Aussteigen oder beim stehenden Fahren sich nicht mit der Hand festzuhalten. Beim Aussteigen drückt er dann auf den Türknopf und holt sich dort die Viren ab“, sagt Reintjes. Er rät, sich besonders häufig die Hände zu waschen und sich impfen zu lassen, wenn eine Grippewelle im Anmarsch ist. Zudem sollten die Menschen beachten, dass auch Jacke, Mantel oder Hose Erreger tragen können: „Was das bedeutet, hat sich gerade am Beispiel der spanischen Krankenschwester gezeigt, die sich beim Ablegen ihrer Schutzkleidung mit Ebola infiziert hatte“.

Kinder und ältere Menschen seien empfindlicher gegenüber Grippeviren und infizierten sich leichter, so Reintjes. Auch dies sei in die Simulation eingeflossen. Ebenso die Tatsache, dass jemand vielleicht schon Bus gefahren ist, bevor er in die U-Bahn stieg oder gerade aus der Schule kommt. Selbst die verschiedenen Verhaltensweisen sind im Modell hinterlegt. Thiel-Clemen: „Kinder fassen überall an, wenn sie sich durch den U-Bahn-Waggon bewegen. Und sie nehmen nicht die Hand vor den Mund, wenn sie niesen.“

Die roten Punkte, also erkrankte Agenten, sind in dem Modell mit verschieden großen Erregerwolken umgeben, die die Ansteckungsgefahr in ihrer Nähe darstellen. Und selbst wenn die Grippekranken ausgestiegen sind, wirken sie noch nach – in Form der zurückgelassenen Erreger. Diese überleben auf weichem, porösen Material, das schnell austrocknet, maximal vier Stunden. Ist das Material jedoch hart und nicht porös, wie Haltegriffe oder Plastiksitzschalen, können die Viren bis zu neun Stunden am Leben bleiben und Menschen infizieren.

Die Wissenschaftler wollen ihr Modell nun weiter verfeinern. Bislang entstand es ausschließlich aus Eigenmitteln, als Masterarbeit im Department Informatik. Nun hoffen die Forscher auf finanzielle Unterstützung, um etwa auch die S-Bahn-Linien und damit die Bewohner weiterer Stadtteile hinzuzunehmen – und irgendwann den gesamten öffentlichen Personennahverkehr inklusive Pendler abbilden zu können. Dann wäre das Verhalten von Millionen Menschen zu simulieren.

Auch dies hält Thiel-Clemen für machbar: „Wir haben bereits das Love-Parade-Unglück von Duisburg mit 500.000 Menschen simuliert. Dabei geht es nicht nur darum, darzustellen, wie Menschen von einem Punkt zu einem anderen strömen – das können viele andere Modelle auch. Vielmehr haben wir das individuelle Verhalten berücksichtigt. Einige Menschen bewegen sich als Gruppe. Eine Mutter mit Kind läuft langsamer, hält an, kehrt vielleicht sogar um, wenn das Kind nicht gefolgt ist. Diese individualisierten Agenten sind unsere Stärke, mit ihnen gehören wir zu den weltweit führenden Teams für solche Simulationen.“

Das Hamburger U-Bahn-Netz sei der Prototyp für Simulationen für andere Großstädte wie etwa Frankfurt. Die Stadt sei durch den großen Flughafen besonders anfällig für eingeschleppte Infektionskrankheiten wie etwa Lassa-Fieber, das sich potenziell in der Mainmetropole ausbreiten könne, so Thiel-Clemen. Auch eine potenzielle Ausbreitung von Ebola lasse sich simulieren. Selbst die gesamte Bundesrepublik haben die HAW-Forscher im Visier. Thiel-Clemen: „Wir könnten im Hinblick auf drohende bioterroristische Anschläge beratend tätig werden. Allerdings ist es sehr aufwendig, bundesweit alle notwendigen Daten zu erheben, aus denen sich das Verhalten der Agenten ausreichend genau ableiten ließe.“

Im Moment geht es jedoch um die Grippe. Jede winterliche Grippewelle wird mit unterschiedlichen Varianten simuliert. So entstehen verschiedene Szenarien. Die Informatiker und Epidemiologen entscheiden dann, welches am wahrscheinlichsten ist. Um Rechenzeit zu sparen, läuft die Simulation nur für die Wochen, in denen Grippewellen auftreten, beginnend bei der 42. Woche bis zur ersten Woche des Folgejahres.

Derzeit befinden wir uns in der 42. Woche. Dank der recht warmen Witterung ist bislang keine reale Grippewelle in Sicht. Sollte sie kommen, so stünden die HAW-Forscher bereit, um mithilfe der Simulationen dazu beizutragen, dass die Welle möglichst flach bleibt.