Wildtiere in Hamburg sind das Forschungsthema von Lisa Warnecke. Die Biologin möchte die Mechanismen ergründen, weshalb sich einige Tiere in Städten behaupten können

Pfeilschnell schießt ein Wanderfalke über die Türme der Innenstadt. Lautlos jagt die weltweit größte Eule auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Lautstark tragen die Rothirsche im Duvenstedter Brook im Herbst ihre Rivalenkämpfe aus. Das Naturschauspiel lockt Besucher aus ganz Europa an.

Mit rund 50 Säugetierarten, etwa 160 unterschiedlichen Brutvogelarten, ungezählten Insekten, vielfältigsten Amphibien und mehr als 1300 wildwachsenden Pflanzen zählt das „wilde“ Hamburg zu den Hotspots der Artenvielfalt. „Ich will ergründen, warum einige Tiere sich erfolgreich in den Städten behaupten können und andere nicht“, sagt Dr. Lisa Warnecke. Die Biologin zählt zu den Pionieren, die die Ökophysiologie urbaner Wildtiere erforschen, um Schlüsselmechanismen zu entdecken, die den Tieren ein Leben in der Stadt erlauben.

Dieser junge Forschungszweig gewinnt im Zuge der intensiven Nutzung und der Versiegelung ländlicher Gebiete an Bedeutung, da immer mehr Tiere ihre natürlichen Lebensräume verlieren. So zeigen Studien beispielsweise aus Großbritannien, dass mit den riesigen Monokulturen, die die Landwirtschaft dort anlegt und bebaut, die Wildtiere geradezu in die Stadt gedrängt werden. Ein Trend, der auch hierzulande beobachtet wird. „In der Stadt ist der Tisch reich gedeckt für die Wildtiere, und sie finden vielfältige Unterschlupfmöglichkeiten. Manchmal ist man allerdings schon überrascht, wo die Tiere sich aufhalten. So brüten Möven zwischen Bahngleisen, das kann eigentlich nicht gut gehen. Doch das Klima in der Stadt ist wärmer und trockener als in den ländlichen Gebieten. Zudem bietet Hamburg den Wildtieren viele Fließ- und Stehgewässer, Wiesen, reichlich Gärten sowie waldähnliche Gebiete“, sagt Warnecke. Diese Biotope locken.

Die Biologin möchte herausfinden, wie viele Aufwärmphasen die Igel haben

Doch was müssen die Wildtiere „können“, um sich in Städten anzusiedeln und langfristig zu überleben? „Den urbanen Raum kennzeichnet, dass er sich rasant verändert. Wo heute beispielsweise noch Brachland ist, stehen morgen Häuser. Oder wo heute in einem Neubaugebiet kleine Bäume auf großen Rasenflächen etwas Schatten spenden, verschatten sie diese in wenigen Jahren völlig. In beiden Fällen fordert das die Tierwelt heraus. Um sich schnell an wandelnde Bedingungen anpassen zu können, ist für die Wildtiere in der Stadt daher Flexibilität bezüglich Verhalten, Nahrung und Unterschlupf geboten. Welche physiologischen Eigenschaften dafür nötig sind, das will ich ergründen“, erläutert die Zoologin.

Konkret untersucht sie Eigenschaften von Tieren, die in Wechselwirkung zur Umwelt stehen und möglicherweise als Anpassung an ihren jeweiligen Lebensraum zu verstehen sind. Nach Beuteltieren in den Wüsten in Australien, Fledermäusen in den Eiswüsten Kanadas sind nun Igel dran. „Ich habe mir den Igel ausgesucht, weil den jeder kennt und es dennoch kaum physiologische Informationen über ihn gibt. Die meisten Forschungsdaten zur Ökophysiologie stammen aus Neuseeland und von den schottischen Inseln, wo Igel eingeschleppt wurden und dort nun so massiv auftreten, dass die bodenbrütenden Vögel regelrecht drangsaliert werden“, sagt Dr. Warnecke. Dabei kommen die Igel auch in europäischen Städten offenbar bestens klar.

Französische Forscherinnen zeigten vor drei Jahren, dass in einem urbanen Gebiet im Nordosten Frankreichs etwa neunmal so viele Igel leben wie in einer ländlichen Vergleichsregion. Eine Erklärung dafür fanden die Wissenschaftlerinnen nicht. Ihre Vermutung, die Tiere hätten in der Stadt mehr zu fressen, erwies sich als falsch. Deshalb will Dr. Warnecke nun an den putzigen Stacheltieren erforschen, ob und wie sie ihren Energiebedarf in Abhängigkeit von der Umwelt steuern.

„Um die kalte Jahreszeit zu überleben, senken viele Tiere ihren Stoffwechsel und Körpertemperatur. Diese Tiere haben einen großen Vorteil gegenüber allen anderen Tieren, die ihre Körpertemperatur immer konstant halten müssen. In gewissen Abständen müssen aber auch die Winterschläfer, aus Gründen, die wir nicht kennen, ihre Stoffwechselaktivität erheblich steigern, um sich aufzuwärmen.

Igel sind ein gutes Beispiel für Tiere, die diese besonderen Überwinterungsstrategien haben. Zudem nutzen sie diesen Energiesparmodus, den wir als Torpor bezeichnen, auch, um bei Nahrungsmangel ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Ich möchte herausfinden, wie viele Aufwärmphasen die Igel haben und ob es dabei Unterschiede zwischen urbanen und weitgehend natürlichen Gebieten gibt“, sagt Warnecke. Insgesamt 24 Stadt- und 24 Land-Igel, die die Hamburger Biologin einsammelt, mit einem Minisender für Körpertemperatur und einem Datensender für Mikroklima ausrüstet, wird Lisa Warnecke zwei Jahre lang beobachten. Die Stadt-Igel fängt sie im Stadtpark und in Grünanlagen. „Die Land-Igel stammen aus stadtnahen Waldgebieten, in denen keine Gebäude stehen und die dort von Menschen auch nicht gefüttert werden.“ Die Daten schicken die Mikrosender automatisch zu ihr. Zudem wird die Biologin die Tiere auch noch wenige Wochen an der Universität halten, um mehr über ihren Stoffwechsel zu erfahren. „Aus den Daten können wir dann ermitteln, wie viel Nahrung ein Igel wann braucht, um sich wohl zu fühlen“, sagt Warnecke.

Idealerweise müsste man die Überlebenskünste aller urbanen Wildtiere erforschen. Doch für diese Grundlagenforschung steht kaum Geld zur Verfügung. Die Igel-Studie ermöglicht die Deutsche Wildtier Stiftung mit 50.000 Euro. Eines wissen die Forscher schon jetzt: Die zweibeinigen Stadtbewohner müssen, um die Vielfalt der Natur zu erleben, nicht weit reisen. „Wir müssen“, sagt Warnecke, „nur mit offenen Augen durch die Stadt gehen.“ Wer ein Fernglas mitnimmt, sieht noch mehr.