Die Hamburger Eilande Scharhörn und Nigehörn wachsen zusammen, die dänische Hallig Jordsand ist untergegangen – Forscher dokumentieren die Dynamik des Meeres.

Hamburg/Neuwerk. Im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer liegen drei Inseln: Neuwerk, Scharhörn und als jüngster Spross das 1989 künstlich aufgespülte Eiland Nigehörn. Eigentlich sind es nur noch zwei. „Scharhörn und Nigehörn sind inzwischen zu einer Insel zusammengewachsen, sie sind nur noch durch einen Priel getrennt“, sagt Nationalparkleiter Dr. Klaus Janke. „Eigentlich können wir einen der beiden Inselnamen streichen. Machen wir aber nicht, denn schon die nächste Sturmflut schafft vielleicht wieder zwei Inseln.“ Die Entwicklung von Hamburgs Außenposten in der Nordsee zeigt die Dynamik des Wattenmeeres. Sie macht die zum Weltnaturerbe erklärte Küstenregion so einzigartig. Janke: „Viele Entwicklungen kann man wissenschaftlich nicht im Detail erklären. Aber wir dokumentieren sie und gewinnen dabei neue, spannende Erkenntnisse über die weitgehend ungestörten Kräfte der Natur.“

Von Jordsand nordöstlich der Insel Sylt ist nur noch eine Sandbank übrig

Das Meer gibt, das Meer nimmt – nicht immer ist die natürliche Dynamik konstruktiv. In der Sturmnacht vom 16. auf den 17. Januar 1362 verschlang die Nordsee die blühende mittelalterliche Handelsstadt Rungholt. Noch heute tauchen südöstlich der Insel Pellworm bei Niedrigwasser Siedlungsreste auf. Jüngstes Opfer der natürlichen Dynamik ist die dänische Hallig Jordsand östlich von List auf Sylt. Sie wurde mehr und mehr abgetragen und ist 1999 endgültig zu einer Sandbank verkommen, die mit den Gezeiten vom Meer überspült wird. Das Gegenbeispiel heißt Kachelotplate und liegt weit im Westen, zwischen Borkum und Juist. Hier wuchs aus einer Sandbank eine Insel empor.

Scharhörn, Jordsand und die Kachelotplate sind drei von zehn Inseln oder Sandbänken, deren Entwicklungen in einer aktuellen Studie für das internationale Wattenmeersekretariat der Anrainerstaaten Niederlande, Deutschland und Dänemark beschrieben werden. „Wer die Dynamik von Scharhörn versteht, kann sie sich auch in anderen Gebieten erklären“, sagt Dr. Harald Marencic vom Wattenmeersekretariat mit Sitz in Wilhelmshaven. Die relativ einheitlichen Lebensräume haben gerade für die Seevögel Vorteile, sagt Marencic: „Wenn sie irgendwo gestört werden, finden sie auf anderen Inseln ähnliche Bedingungen.“

Auch Scharhörn und Nigehörn sind mit ihren Dünen, Prielen und Salzwiesen vor allem Vogelschutzinseln. Doch es sind ungleiche Schwestern. Scharhörn, mit gut 30 Hektar rund halb so groß und viel älter, wandert in einer leicht drehenden Richtung südostwärts. „Im Nordwesten trägt das Meer bei Sturmfluten den Sand ab, im Südosten lagert sich bei längeren Trockenperioden welcher an“, erläutert Janke. „Bei trockenem Wetter haben wir vorwiegend östlichen Wind. Er wirbelt bei Niedrigwasser abgetrockneten Sand von Wattflächen auf und trägt ihn nordwestwärts nach Scharhörn. Deren Vegetation wirkt als Sandfänger, die Insel wächst.“

Im Schnitt bewegt sich Scharhörn jedes Jahr um zwölf Meter nach Südosten, in unruhigen Jahren können es auch einmal 20 Meter werden. Das hat auch Schattenseiten. 1964 wurde auf Scharhörn das Hamburger Haus errichtet. Der Pfahlbau sollte Forschern als Obdach dienen, die im Auftrag Hamburgs Daten für einen damals geplanten Tiefwasserhafen erheben sollten. Der Industriehafen ist Geschichte, das Hamburger Haus aber auch. Es wurde von 1982 an als Vogelwärterhaus genutzt, aber Mitte der 1990er-Jahre von einer Sturmflut zerstört. „Die Pfahlreste befinden sich heute durch die Wanderung der Insel an der Westseite am Strand“, schreibt der Verein Jordsand, der im Hamburger Nationalpark den Vogelschutz betreibt, in seiner Zeitschrift „Seevögel“.

Das neue Vogelwärterhaus wurde 1996 wohlweislich im östlichen Bereich der Insel errichtet. „Heute steht es 200 Meter von der Nordwestkante entfernt, nur durch eine Düne vom Meer getrennt“, sagt Janke. Es gebe Vorbereitungen für eine weitere Umsiedlung „in wenigen Jahren“. Schuld ist allerdings auch ein Pilz, der das Holz der Pfahlkonstruktion befallen hat, sodass der Containerbau nicht mehr betreten werden kann.

Anders als Scharhörn sitzt Nigehörn weitgehend fest. Die Inselmacher hatten anno 1989 Zäune aus trockenem Buschwerk installiert und Dünengräser gepflanzt, um die 1,2 Millionen Kubikmeter aufgespülter Sand an ihrem Ort zu halten – das klappt bis heute, es gibt nur leichte Wanderbewegungen, die geringer sind als erwartet. Aber auch Nigehörn breitet sich aus. „Zusammen haben die beiden Inseln mit ihren bewachsenen Vorländern annähernd die Größe von Neuwerk, etwa 300 Hektar“, sagt Klaus Janke.

Von der Dynamik profitieren vor allem Seevögel. Die Bodenbrüter brauchen eine niedrige Vegetation, die ihnen die offenen, sandigen Flächen der wandernden Inseln bieten. Zudem leben dort keine Füchse und andere Vierbeiner, die Jungvögel und Gelege fressen. Allerdings verlieren die Vögel auf Scharhörn und Nigehörn allmählich die Sicht: Beide Düneninseln sind inzwischen stark zugewachsen, haben eine fast lückenlose Pflanzendecke. Dies könnte eine Ursache sein, dass eine Kolonie Brandseeschwalben Scharhörn verließ – nach Angaben von Jordsand brütete die seltene Art das letzte Mal im Jahr 2005 auf der Insel, mit 95 Paaren.

Offenbar sind die Vögel ins östliche Vorland von Neuwerk umgezogen. 2006 ließen sich dort mehrere Hundert Brutpaare nieder. Janke: „Aktuell ziehen rund 750 Paare dort ihren Nachwuchs auf, zum Teil kaum mehr als einen Steinwurf entfernt vom markierten Wanderpfad durch das streng geschützte Gebiet. Die Brandseeschwalben mischten sich in eine Lachmöwenkolonie. Die Möwen sind sehr wehrhaft und bieten so auch den Seeschwalben Schutz vor Fressfeinden.“

Auf Nigehörn wachsen sogar Bäume, auf Scharhörn jedoch nicht

Die aufstrebende Pflanzenwelt stellt die Meeresbiologen vor ein Rätsel: Auf Nigehörn, mitten im Wattenmeer, wachsen Bäume. Kiefern, Erlen und Weiden sind offenbar robust genug, um salzige Luft und ebensolchen Boden, zeitweilige Trockenheit oder große Feuchtigkeit auszuhalten. Die Bäume profitieren von einer Süßwasserlinse, die sich unter der Insel gebildet hat. Aber eine solche Linse gibt es auch im Boden von Scharhörn. Weshalb gedeihen die Bäume auf der einen, nicht aber auf der anderen Insel? „Wir dokumentieren die Veränderungen und staunen“, kommentiert der Nationalparkleiter die Entwicklung. „Vieles, was dort zu sehen ist, steht in keinem Lehrbuch.“ Das gelte auch für das Schilf, das am Rande Nigehörns wächst und von Natur aus eher Seen und Flüsse im Binnenland besiedelt.

Das wichtigste Element der natürlichen Dynamik bleibt aber die sich ändernde Gestalt der beiden Inseln. Zum 25-jährigen Bestehen lässt Klaus Janke Nigehörn gerade neu vermessen, ebenso Scharhörn. Er ist sich sicher, dass die Karten mit den Inselumrissen in einigen Wochen, wenn die Datenaufnahme ausgewertet ist, wieder aktualisiert werden müssen.