Pilot Richard Westgate starb mit 43 Jahren. Forscher entdeckten bei der Obduktion, dass sein Nervensystem schwer geschädigt wurde. Symptome vergleichbar mit Leukämie und Herzmuskelentzündung.

Amsterdam. Dr. Frank van de Goot ist ein zurückhaltender Mann, und als Gerichtsmediziner ist das wahrscheinlich von Vorteil, wenn man Leichen obduziert. Als der Niederländer den Körper von Richard Westgate examinieren soll, ist er demzufolge erst einmal skeptisch, als er den Untersuchungsauftrag liest: Van de Goot sollte herausfinden, ob der Pilot Westgate, der nur 43 Jahre alt wurde, am sogenannten „aerotoxischen Syndrom“ litt. Der Pathologe entnahm Teile des Gehirns, des Rückenmarks und der größeren Nerven aus den Beinen. Schon beim ersten Blick durch das Mikroskop wurde er stutzig: „Ich sah dort sofort das, was man erwarten konnte, wenn diese Theorie über kontaminierte Kabinenluft wahr sein sollte. Mit diesen Nervenschädigungen konnte ich die Existenz eines aerotoxischen Syndroms nicht mehr ausschließen.“

Westgate wurde demnach krank durch die Luft, die jeder Passagier und jedes Besatzungsmitglied in einem Verkehrsflugzeug einatmet. Denn sind die Flugzeugtüren einmal geschlossen, steht als Atemluft nur noch sogenannte „Zapfluft“ zur Verfügung. Die Kabinenluft wird bei fast allen gängigen Flugzeugtypen direkt an den Triebwerken abgezapft und ungefiltert in die Kabine geleitet. Das Problem dabei sind bestimmte chemische Zusatzstoffe, die den speziellen Turbinenölen und der Hydraulikflüssigkeit beigemischt werden, allem voran Organophosphate.

Inzwischen ist bekannt, dass sogar im Normalbetrieb geringe Mengen, im Fall eines Dichtungsversagens sogar mehrere Liter dieser giftigen Rückstände austreten können, am heißen Triebwerk verdampfen und sich in der Kabinenluft niederschlagen. Seit Jahrzehnten warnen renommierte Wissenschaftler vor dem Chemikaliencocktail. Viele der Stoffe sind gemäß der internationalen Datenbank für Chemieprodukte teilweise krebserregend, giftig, einige sind sogar als Nervengifte klassifiziert.

Bereits 1999 fand eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Frankreich, den USA und Australien einen Namen für die Vielzahl von Symptomen, die durch solche Öldampfvorfälle beim Menschen ausgelöst werden können. Aber das „aerotoxische Syndrom“ ist bis heute eine Krankheit, die es eigentlich nicht gibt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO führt sie nicht im Katalog der anerkannten Krankheiten.

Einer, der sich seit Jahren mit der Problematik der Atemluft in Flugzeugen auseinandersetzt, ist Prof. Mohamed B. Abou-Donia von der Duke-Universität in den USA. Auch er ist an der Ursachenforschung im Fall Westgate beteiligt. Proben von Westgates Herzmuskel, seines Klein- und Großhirns, des Rückenmarks und der entnommen Nerven wurden an Abou-Donia verschickt. Der Professor ist spezialisiert auf Vergiftungen durch Organophosphate, Nervengas und chemische Waffen. Im Auftrag der US-Militärs löste er bereits das Rätsel um die mysteriöse Nervenkrankheit unter amerikanischen GIs, die Mitte der 90er-Jahre als „Golfkriegs-Syndrom“ Schlagzeilen machte. Schon seit Jahren warnt der Wissenschaftler eindringlich, die Folgen von kontaminierter Kabinenluft zu unterschätzen. „Die Stoffe, die hier freigesetzt werden, verursachen das Absterben von Nervenzellen und Gehirnzellen. Je länger man diesem Phänomen ausgesetzt wird, umso mehr Zellen sterben, und wir sehen chronische Effekte.“ Abou-Donia hat einen speziellen Bluttest entwickelt, mit dessen Hilfe sich Schädigungen des Gehirns nachweisen lassen. Doch damit ließ sich bislang nur feststellen, dass Zellschäden eingetreten sind. Ob diese durch Giftstoffe in den Öl- oder Hydraulikdämpfen in der Kabinenluft ausgelöst wurden, vermochte der Test bisher nicht zu sagen.

Inzwischen hat der Forscher Hunderte Blutproben ausgewertet, überwiegend von Flugzeug-Crews. „Wir haben in diesen Proben sehr typische Marker gefunden, die auf Zelltod und Hirnschädigungen hinweisen. Das führt in der Folge zu einer Vielzahl von neurologischen Schäden.“ Über neun Monate haben Abou-Donia und sein Team die Zellproben von Richard Westgate in einer toxikologischen Detektivarbeit analysiert. Nun veröffentlichte er seine Ergebnisse in Form einer wissenschaftlichen Fallstudie, gemeinsam mit dem forensischen Pathologen Dr. van de Goot und Westgates letztem Arzt, Dr. Michel Mulder.

Demnach steht fest: Westgate litt an Symptomen, die vergleichbar sind mit einer gleichzeitigen Erkrankung an Leukämie, multipler Sklerose, einer Herzmuskelentzündung und zusätzlich einer Arsen- und Insektizidvergiftung. All diese Krankheiten wurden jedoch schon zu seinen Lebzeiten ausgeschlossen. Die Fallstudie stellt erstmalig einen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von kontaminierter Kabinenluft im Flugzeug und der schwerwiegenden Erkrankung eines Betroffenen her. „Die Schädigungen des Nervensystems standen im Einklang mit der durch Organophosphate verursachten Schädigung des Nervengewebes“, heißt es in der Studie. Die Analysen an den Zellproben Westgates zeigen auch „Verkümmerungen an den Nerven sowie den Zerfall der die Gehirnzellen umgebenden Schutzschicht“. Hinzu kommt, dass diese Vergiftungen „das Nervensystem und das Herzgewebe anfälliger für weitere Schäden gemacht haben“.

Bislang hat die Airline-Branche das Problem und jegliche Verantwortung für die Folgen weit von sich weggeschoben. Es gäbe keine wissenschaftlichen Belege für einen Zusammenhang von in den vergangenen Jahren vermehrt auftretenden Erkrankungen bei Flugpersonal und kontaminierter Kabinenluft, hieß es. Die möglicherweise freigesetzten Stoffe seien in ihrer Konzentration zu gering, um beim Menschen ernsthafte Schäden anzurichten. Die bei Messungen im Auftrag von Airlines ermittelten Werte hätten „keine Überschreitung vorliegender arbeitsmedizinischer Grenzwerte“ ergeben, sagt Wolfgang Rosenberger vom Institut für Arbeitsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Diese Position könnte durch die Obduktionsergebnisse des toten Piloten nun ins Wanken geraten.

Richard Westgates Leidensgeschichte begann im August 2011, als er die für Piloten vorgeschriebene medizinische Flugdiensttauglichkeit verlor. Ihn plagten merkwürdige Beschwerden wie Taubheit in Füßen und Händen, die manchmal sogar bis zu den Ellbogen emporkroch. Westgate war in der britischen Luftfahrtszene kein Unbekannter: Neben seiner Leidenschaft für das Fliegen von Verkehrsflugzeugen des Typs Airbus A320 für die British Airways war er mehrfacher Rekordhalter im Paragleiten.

Westgate suchte mehr als 15 spezialisierte Ärzte und Kliniken in Großbritannien auf, doch niemand konnte ihm helfen. Inzwischen hatten sich die Symptome verschlimmert: Er beklagte migräneartige Kopfschmerzen, Sehstörungen, Verwirrungszustände, Störungen des Bewegungsapparats bis hin zu Lähmungen der Beine. Hinzu kamen ein starkes Engegefühl in der Brust, Schlaf- und Gedächtnisstörungen. Einer der britischen Ärzte wies ihn daraufhin in eine psychiatrische Anstalt ein. Nach vier Wochen verließ Westgate die Einrichtung und reiste nach Holland, um einen weiteren Arzt zu konsultieren, Dr. Mulder. Den Piloten treibt nur noch ein Gedanke: Er will wieder gesund werden und zurück ins Cockpit. Doch seinen Gesundheitszustand vergleicht Mulder mit einer „Achterbahnfahrt“. „Unsere Untersuchungen ergaben, dass Westgate zu einer Gruppe von Menschen gehört, welche die Giftstoffe aus der kontaminierten Kabinenluft so gut wie nicht abbauen können.“ Auch Abou-Donia meint, dass die genetische Veranlagung eine große Rolle bei der Verarbeitung der Giftstoffe spielt. „Manche Menschen können diese Substanzen nicht oder nur unvollständig abbauen und sind daher anfälliger für Schädigungen des Gehirns und des Nervensystems.“ Abou-Donia schätzt, dass dies bei etwa 20 Prozent aller Menschen der Fall ist.

Nach den Ergebnissen eines noch experimentellen DNA-Tests gehörte Westgate zu einer Gruppe von rund drei Prozent, welche diese Giftstoffe überhaupt nicht abbauen können. Im Herbst 2012 bittet er seinen Anwalt Frank Cannon, selbst ehemaliger Pilot und Inhaber einer Airline, dafür Sorge zu tragen, dass sein Körper für den Fall seines Todes der Wissenschaft zur Erforschung des „aerotoxischen Syndroms“ und seiner Ursachen zur Verfügung gestellt wird. Einige Wochen später, in den frühen Morgenstunden des 12. Dezembers 2012, wird er von einer Hotelangestellten leblos in seinem Bett gefunden.

Anwalt Frank Cannon bereitet nun den Prozess vor, der „Richard Westgate zu seinen Lebzeiten verwehrt blieb“. Nach britischem Recht muss in einem öffentlichen Gerichtsverfahren die offizielle Todesursache geklärt werden. Cannon ist zuversichtlich, denn „Westgates Fall ist kein isolierter Einzelfall. Wir arbeiten bereits an einem weiteren Todesfall eines Besatzungsmitglieds.“

Pilotenvertreter in Deutschland sehen ihre Vermutungen bestätigt. Sie haben die Westgate-Untersuchungen verfolgt und die Studie ausgewertet. „Diese erschreckenden Ergebnisse zeigen: Nervengifte gehören nicht in die Flugzeugkabine“, sagt Jörg Handwerg, Sprecher der Pilotenvereinigung Cockpit (VC). Bereits seit acht Jahren beschäftigen ähnliche Fälle den Pilotenverband. „Die Beschwerdebilder unserer Mitglieder sind teilweise deckungsgleich mit den in der Studie aufgeführten Beschwerden“, erklärt Handwerg in einer schriftlichen Stellungnahme.

Der US-Flugzeugbauer Boeing geht bereits technisch andere Wege in der Atemluft-Versorgung. Bei seinem Dreamliner, der Boeing 787, wird die Luft für die Kabine mittlerweile wieder am Rumpf und nicht mehr an den Triebwerken abgenommen. Konkurrent Airbus sieht bislang keinen Handlungsbedarf.