Wissenschaftler untersuchen auf Helgoland die Gefährdung der großen Seevögel durch Offshore-Windparks.

Helgoland. Am frühen Morgen, noch vor Sonnenaufgang, seilen sich Malte Bickel und Kolja Lehmann-Muriithi – ausgerüstet wie die Bergsteiger – vom einzigen deutschen Brutfelsen für nordatlantische Seevögel ab. Ihre Mission: sieben brütende Basstölpel sollen aus der rund 1300 Köpfe umfassenden Kolonie gefangen werden. Die beiden freiberuflichen Biologen haben für diese außergewöhnliche Aufgabe eine spezielle Kletter-Ausbildung vorweisen müssen. Jetzt arbeiten sie für das Forschungs- und Technologiezentrum Westküste der Uni Kiel (FTZ Büsum). Oben am Klippenrand warten unterdessen Prof. Dr. Stefan Garthe, Leiter der Arbeitsgruppe Seevögelökologie am FTZ, und seine Mitarbeiterin Anna-Marie Corman auf den ersten gänsegroßen Vogel. Mit kräftigem Griff wird das in einer Schlinge herangezogene Tier gepackt und gleichzeitig beruhigt, um nicht vom etwa zehn Zentimeter mächtigen Schnabel verletzt zu werden. Jana Jeglinski, Kooperationspartnerin von der Uni Glasgow, deckt ein Tuch über den Kopf des Vogels. In Schottland weiß man, wie Basstölpel ruhigzustellen sind. Schließlich hat das Tier vom dortigen Bass-Rock, einer Felseninsel vor der Ostküste mit einer der größten Tölpel-Kolonien der Erde, seinen Namen.

Während die zwei Frauen den Vogel sicher im Griff haben, klebt Garthe mit geübter Hand einen GPS-Datenlogger auf dessen Schwanzfedern. Dieser Datenspeicher ist ein nur 40 Gramm leichtes, solarbetriebenes Hightech-Gerät, das während der Nahrungsflüge alle fünf Minuten die Position des damit ausgerüsteten Basstölpels per satellitengestützter GPS-Ortung aufzeichnet. Weltweit ist der Wissenschaftler mit dieser Technik unterwegs. „Wir wollen einzelne Tiere in ihren räumlichen Bewegungen verfolgen und ihre Flugmuster erforschen“, erzählt Garthe. Vom Klippenrandweg aus können die Daten der auf den Nestern sitzenden Brutvögel bequem per Funk ausgelesen werden. Rund zwei Monate haben Garthe und Corman dafür Zeit. Dann sind die Jungen flügge und verlassen mit ihren Eltern die Insel Helgoland.

Basstölpel sind die Herrscher der Nordsee und des Nordatlantiks. Mit ihren auf knapp zwei Meter ausgebreiteten Schwingen segeln sie über den Wellen und kommen nur zur Brutzeit an Land. Ihr Lebensraum ist nichts als Luft und Wasser. Doch wo genau halten sich Basstölpel in den Weiten der Meere auf? Wohin führen ihre mehrere Hundert Kilometer reichenden Nahrungssuchflüge? Dieser Frage können die Ornithologen des FTZ Büsum jetzt zumindest während der Brutzeit nachgehen. In der vergangenen Woche haben sie dazu auf Helgoland erstmals in Deutschland Basstölpel mit jeweils über 1000 Euro teuren Datenloggern ausgestattet, die auch den Tauchgängen der Vögel bis in eine Wassertiefe von mehr als 20 Metern standhalten.

Wichtig sind die Erkenntnisse über Flugstrecken und bevorzugte Nahrungsgebiete, weil die Nordsee immer mehr zum Industriegebiet verkommt. Dem Einblick des Menschen weitgehend entzogen, machen sich in dem Meer Bohrplattformen der Öl- und Gaskonzerne, Saugbagger zur Kies- und Sandgewinnung, Fischerei und Schifffahrt sowie in jüngster Zeit die Rotoren der Offshore-Windparks breit. Bei einer Überfahrt nach England etwa ist zu sehen, dass es kaum noch Meeresgebiete gibt, in denen keine Anzeichen der industriellen Nutzung der Nordsee den Blick auf den Horizont verstellen. „Dass der Mensch da draußen im wahren Wortsinn kaum Fuß fassen kann, heißt jedoch nicht, dass nicht andere Kreaturen auf das Meer als Lebensraum angewiesen wären“, so Garthe, und er meint damit besonders auch den Luftraum über dem Wasser. „Wir Landbewohner scheinen das allzu leicht zu vergessen.“ Deshalb trägt die Forschung des FTZ Büsum auch dazu bei, das Leben von Seevögeln, das nur in kleinen Anteilen direkt zu beobachten ist, für den Menschen erfahrbar zu machen.

Bis die Daten von den sieben Basstölpeln vorliegen, müssen sich die Forscher noch gedulden. Mit großer Spannung erwarten sie, ob der Lebensraum der Seevögel durch die nördlich vor Helgoland entstehenden Windparks tatsächlich eingeengt wird. Andere Arten wie etwa Kurzschnabelgänse, die die Nordsee bei ihrem Flug nach oder von Spitzbergen mehrfach im Jahr überqueren, weichen nach Erkenntnissen von Katrin und Reinhold Hill von der Firma Avitec Research den Windrädern weiträumig aus. Dadurch verbrauchen sie mehr Energie als ohnehin nötig und verlieren an Kondition. Eine erhöhte Sterblichkeit oder ein geringerer Bruterfolg sind die unweigerliche Folge. Denkbar ist aber auch, dass die Basstölpel von den Windparks und den Rastmöglichkeiten auf den dortigen Plattformen angelockt werden. Das Verbot der Fischerei zwischen den Rotoren dürfte zudem das Nahrungsangebot für die Fische liebenden Vögel steigen lassen. Dann jedoch drohen den Tölpeln ein nicht unerhebliches Kollisionsrisiko und die Gefahr, von den sich schnell und für die Tiere kaum einschätzbar drehenden Flügeln erschlagen zu werden. Etliche Beispiele von an Land stehenden Windrädern, deren Rotorblättern selbst fluggewandte Greifvögel nicht ausweichen konnten, liegen bereits vor.

Vergleichbare Untersuchungen des FTZ Büsum mit GPS-Datenloggern an Heringsmöwen von den nord- und ostfriesischen Inseln haben erste Hinweise darauf ergeben, dass diese Seevögel ihren Nahrungssuchflug unterbrechen, sobald sie in einen Offshore-Windpark geraten. Auf kürzestem Weg versuchte ein Tier, von dem entsprechende Daten gewonnen werden konnten, den Bereich der Windräder zu verlassen. Falls sich also gerade in den Windparks Rückzugsgebiete für ansonsten überfischte marine Organismen etablieren würden, wäre das damit vorhandene Nahrungsangebot für Seevögel möglicherweise nutzlos. Allerdings haben nur wenige Möwen die Gebiete mit bestehenden oder geplanten Windenergieanlagen überhaupt durchflogen. „Unsere Empfehlung war von Anfang an, nur Gebiete weitab von den Küsten zu genehmigen“, so Garthe. „Und das hat sich damit schon bestätigt.“

Wie sich weitere Windparks in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) aber auf die Brutvögel der Hochseeinsel Helgoland auswirken werden, bleibt abzuwarten. In den Niederlanden und Großbritannien werden die Verbreitung und Flugmuster brütender Seevögel bei den Genehmigungsverfahren für Offshore-Windanlagen bereits seit einigen Jahren als wichtige Entscheidungsgrundlage herangezogen. In Deutschland hat die Forschung daran gerade erst begonnen.