Vor 30 Jahren warnten Forscher, der deutsche Forst werde verschwinden. Inzwischen hat er sich erholt. Die Zukunft sehen Experten sehr unterschiedlich

Göttingen. Laub raschelt unter den Füßen, hin und wieder knackt ein Ast. Baumkronen wiegen sachte im Wind. Sonnenlicht blitzt durch das Blätterdach. Irgendwo hämmert ein Specht. Ansonsten: Stille. Ein Waldspaziergang ist für die meisten Menschen Erholung pur. Dabei ist es Nebensache, ob der Weg durch einen Fichtenwald im Harz oder durch einen Buchenwald in Mecklenburg-Vorpommern führt. Doch was, wenn statt üppiger, grüner Zweige kahle Baumskelette in den Himmel ragen? Was klingt wie ein Weltuntergangsszenario, war vor nicht allzu langer Zeit mancherorts Realität.

In den 1980er Jahren alarmierten das sogenannte Waldsterben und der saure Regen die Bundesbürger. Durch den veränderten pH-Wert im Boden warfen Bäume Blätter und Nadeln ab, ihre verkümmerten Wurzeln konnten kaum Nährstoffe aufnehmen, was schließlich zum Absterben der Bäume führte. Die ersten großen Wälder würden schon in den nächsten fünf Jahren sterben, schrieb 1980 ein Forstexperte in einem Gutachten für das Umweltbundesamt. Sie seien nicht zu retten.

Ein Schreckensbild, das Politik, Industrie und Gesellschaft aufrüttelte und ein umfangreiches Schutzprogramm in Gang brachte: Industrie- und Kraftwerksabgase wurden von schädlichem Schwefel gereinigt, Autos mit Katalysatoren ausgerüstet, Benzin von Blei befreit. Hubschrauber verstreuten Kalk über Waldgebieten, um übersäuerte Böden zu neutralisieren.

Das ist 30 Jahre her. Der deutsche Wald ist nicht verschwunden, viele Waldflächen haben sich inzwischen erholt. Ob dies allein an den Umweltmaßnahmen liegt, lässt sich schwer sagen. Heute ist etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands – etwa elf Millionen der rund 36 Millionen Hektar – von Wald bedeckt. Damit gehört die Bundesrepublik zu den waldreichsten Ländern Europas, nach der Schweiz und Österreich.

Vor etwa 2000 Jahren bedeckte Wald fast die gesamte Fläche – hauptsächlich Laubbäume, vor allem Buchen. Nur in den höheren Lagen, etwa im Harz, Schwarzwald oder Bayerischen Wald, wuchsen Nadelbäume wie Fichten oder Tannen. Kiefern gediehen auf Dünen, an Mooren oder Felshängen. Die Waldfläche, wie wir sie kennen, entstand vor allem durch Aufforstungen, nachdem die Bäume seit dem Mittelalter immer wieder großflächig gerodet wurden. „Der Wald wurde über Jahrhunderte hinweg derart übernutzt, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich eine Holzarmut herrschte“, sagt der Vegetationskundler Wolfgang Schmidt von der Fakultät für Forstwissenschaften und Waldökologie der Universität Göttingen. Ein Umdenken musste her.

Als einer der ersten Forstwissenschaftler seiner Zeit entwarf der Thüringer Heinrich Cotta Pläne, wie man Wald nachhaltig bewirtschaften könnte. Mit seinem 1817 veröffentlichten Buch „Anweisung zum Waldbau“ legte er den Grundstein für die moderne Forstwissenschaft und -wirtschaft. Gemäß seiner Empfehlungen wurden große Flächen in Deutschland aufgeforstet. Da die Böden verarmt und ausgemagert waren, pflanzte man Fichten oder Kiefern: Die anspruchslosen, widerstandsfähigen und schnellwüchsigen Nadelhölzer hatten hier die besten Chancen.

Eigentlich sollten Nadelbäume nur eine Übergangslösung sein, doch bald stellten sich ihre Vorteile heraus: Fichten und Kiefern wachsen schnell und gerade und lassen sich obendrein leichter verarbeiten als Laubhölzer. Vorteile, die vor allem der Forstwirtschaft, aber auch der Industrie zugute kamen. Heute besteht etwas mehr als die Hälfte des deutschen Waldes aus Nadelholz, der Rest aus Laubbäumen.

Von den Baumarten ist die Fichte am weitesten verbreitet – eigentlich gegen ihre Natur: Ohne menschliches Eingreifen käme sie nur in höheren Lagen vor und würde damit nur ein Prozent der Fläche Deutschlands ausmachen. Inzwischen zeigt die starke Ausrichtung auf Nadelbäume ihre Schattenseiten: Durch Stürme oder Borkenkäfer sind die Fichtenbestände stark zurückgegangen und werden weiter schrumpfen. Eigentlich kommt diese Entwicklung Teilen der Forstpolitik, Umweltverbänden und Naturschützern entgegen: Seit 1970 soll der sogenannte Waldumbau dafür sorgen, dass es künftig wieder mehr Laub- und weniger Nadelholz gibt.

Eine Waldinventur von 2008 zeigt, dass das Ziel näher rückt. Binnen fünf Jahren – seit der zweiten bundesweiten Waldinventur von 2001 bis 2003 – sind die Fichtenbestände um sieben Prozent zurückgegangen. Stattdessen gibt es fünf Prozent mehr Buchen. Insgesamt enthalten die Wälder wieder mehr Laub- und alte Bäume und auch mehr Totholz, das Lebensraum für viele Tier- und Pflanzen sowie Pilze bietet und für die natürliche Waldentwicklung von großer Bedeutung ist.

Doch trotz der vielversprechenden Zahlen ist nicht jeder mit der Entwicklung zufrieden. „Die Holzwirtschaft ist vom Rückgang der Fichte wenig begeistert, da sich das Holz für viele Verwendungen im Bau- und Konstruktionsbereich besonders eignet und höhere Erträge liefert“, sagt Andreas Bolte vom Thünen-Institut für Waldökosysteme in Eberswalde. Buchenholz habe andere Eigenschaften und könne die Fichte kaum ersetzen. Wolfgang Schmidt glaubt jedoch, dass sich das Geschäft mit Buchenholz auf lange Sicht rentieren wird. „Es ist zwar nicht so profitabel wie der Handel mit Fichtenholz, aber die natürlichen Risiken im Zeichen des Klimawandels sind schlicht geringer.“

Nicola Uhde vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hält dagegen die alleinige Konzentration auf holzwirtschaftliche Nutzung für einen Irrweg. „Der Wald als Ökosystem hat wesentlich mehr zu bieten als nur Holz: sauberes Trinkwasser, saubere Luft, Temperaturausgleich, Schutz vor Überschwemmungen und Lärmschutz etwa“, sagt die Biologin. „Er ist ein wichtiger Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Pilze und bietet uns Menschen einen Ort der Erholung.“ Die Interessen der Forstwirtschaft machen es dem Wald jedoch schwer, so Uhde, sein biologisches Potenzial voll zu entfalten. Der BUND plädiert deshalb dafür, mehr „Urwälder von morgen“ zu schaffen. Also Wälder, die für immer aus der forstwirtschaftlichen Nutzung genommen werden. Der deutsche Wald solle sich auf zehn Prozent seiner Fläche natürlich entwickeln können. Für die übrigen 90 Prozent fordert der BUND eine ökologisch verträgliche Nutzung.

Eines der Hauptargumente für eine maßvolle Bewirtschaftung der Wälder ist die Artenvielfalt. Da Buchenwälder sehr dicht wachsen, habe es früher wahrscheinlich nur wenige Freiflächen und damit wohl nicht zwingend mehr Arten gegeben als jetzt, erklärt Bolte. Erst als die Menschen den Wald bewirtschafteten, Vieh zum Weiden hineintrieben und Freiflächen schufen, hatten lichtliebende Tier- und Pflanzenarten die Chance, sich zu entwickeln.

Zum Schutz des Artenreichtums hat die Bundesregierung 2007 die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ verabschiedet, auch „Nationale Biodiversitätsstrategie“ (NBS) genannt. Die 330 Ziele und rund 430 Maßnahmen sollen die unterschiedlichen Arten und Lebensräume in Deutschland schützen. Unter anderem sollen bis 2020 fünf Prozent des gesamten Waldes aus der holzwirtschaftlichen Nutzung genommen werden, darunter zehn Prozent der öffentlichen Wälder.

Andreas Bolte hält es allerdings für wenig sinnvoll, auf vielen Einzelflächen Urwälder wachsen zu lassen, da sie so ihr Potenzial nicht entwickeln könnten. Er schlägt vor, Ur- und Wirtschaftswälder auf großen zusammenhängenden Flächen zu kombinieren. Zudem müsse man weitere Faktoren berücksichtigen. „Wenn man bis zu zehn Prozent des öffentlichen Waldes nicht mehr bewirtschaften darf, wird die Forstwirtschaft auf der restlichen Fläche intensiver wirtschaften“, sagt Bolte. Das habe zur Folge, dass die Wirtschaftswälder stärker als bisher durch die Holzernte beansprucht würden. „Der Artenvielfalt auf der gesamten Waldfläche könnte das sogar mehr schaden als nützen.“ Für Bolte sind Waldbewirtschaftung und Naturschutz daher kein Widerspruch.

Aber ist es wirklich damit getan, Teile des Waldes aus der Nutzung zu nehmen, andere nachhaltig zu bewirtschaften und Fichten- durch Buchenwälder zu ersetzen? „Es ist vor allem wichtig, eine gewisse Flexibilität zu wahren“, sagt Bolte. „Wir wissen nicht, wie sich der Klimawandel auf die Wälder auswirkt oder ob in Zukunft exotische Insekten oder Krankheiten eingeschleppt werden, die einer bestimmten Baumart schaden könnten.“ Er plädiert deshalb für vielfältige Mischwälder – „auch mit Baumarten wie Douglasie, Küstentanne und Roteiche, die vor über hundert Jahren in Deutschland eingeführt wurden und sich in unsere Wälder integriert haben“. Nicola Uhde unterstützt vor allem die Hinwendung zu Buchenmischwäldern. „Buchen sind sehr anpassungsfähig“, sagt sie. „Sie kommen mit den unterschiedlichsten Standorten und Bedingungen zurecht.“ Andreas Bolte hält es hingegen für möglich, dass auch die Buche von einem starken Klimawandel mit langen Trockenphasen nicht verschont bleibt.

Bei allen Überlegungen mahnt Wolfgang Schmidt zu Gelassenheit: „Das Wichtigste im Wald sind Zeit und Geduld. Der Wald wird älter als wir Menschen – wenn man ihn lässt.“