Der Klimawandel könnte die Arktis sehr verändern. Das hätte auch Auswirkung auf Frachtrouten und Rohstoffförderung

Kopenhagen. Den bisherigen Rekord markierte 2012: In diesem Jahr war das Meereis in der Arktis bis zum Ende des Sommers so stark geschrumpft wie noch nie, seit 33 Jahre zuvor die Messungen begonnen hatten. Nur noch 3,41 Millionen Quadratkilometer Meereis seien gemessen worden – halb so viel wie der Mittelwert des Zeitraums von 1979 bis 2000, meldeten US-Forscher.

Zwar nimmt das Meereis um den Nordpol jedes Jahr im Sommer ab; 24 Stunden am Tag ist es dann hell. Im dunklen Winter bildet sich die Eisfläche neu. Dennoch sehen Forscher eine Tendenz: „Es gibt deutliche Zeichen für einen arktischen Klimawandel“, so Thomas Jung, Professor für die Physik des Klimasystems am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. In einigen Jahrzehnten könnte der arktische Ozean während der Sommer eisfrei sein.

Als eine Ursache für die Schmelze gilt neben natürlichen Schwankungen die durch den Menschen angestoßene Klimaerwärmung.

Welche Folgen diese Entwicklung haben könnte, hatten Anfang Juni bereits 400 Fachleute bei einem Meeressymposium in Hamburg diskutiert. Nun war es auch Thema bei der Wissenschaftskonferenz Euroscience Open Forum, die am Donnerstag in Kopenhagen zu Ende ging. Dabei standen auch wirtschaftliche Aspekte im Mittelpunkt. Denn die Eisschmelze weckt viele Begehrlichkeiten, nicht nur bei den Anrainerstaaten. „In Grönland wollen mittlerweile sogar Länder wie Indien Arktisforschung betreiben“, berichtete Klaus Nygaard, Direktor des Greenland Institutes of Natural Resources. „Und natürlich kommen sie wegen der Rohstoffe.“ In Grönland und Kanada geht es vor allem um Öl, in Russland um Gas. AWI-Forscher Jung zitierte eine Studie des Versicherers Lloyd’s, wonach Konzerne in den kommenden zehn Jahren bis zu 100 Milliarden Dollar investieren könnten, um Rohstoffe in der Arktis zu erschließen.

Das abschmelzende Eis macht auch den Weg zu fischreichen Fanggründen frei. Und es eröffnet neue Möglichkeiten für die Frachtschifffahrt. Joachim Schwarz, der in Hamburg als Berater für die Schifffahrtsindustrie arbeitet, berichtete in Kopenhagen, dass angesichts der sommerlichen Eisschmelze um den Nordpol die Nordostpassage immer interessanter für Reedereien werde. Denn diese Route entlang der nördlichen Küsten Europas und Asiens ist erheblich kürzer als der südliche Seeweg durch den Suezkanal. Damit sparen Reedereien nicht nur Transportkosten, sondern sie entgehen auch der Gefahr, dass ihre Schiffe etwa am Horn von Afrika in die Hände von Piraten fallen.

Langfristig könnte die Nordostpassage im Sommer durch die Eisschmelze noch kürzer werden und weniger „kurvig“ entlang der Küste verlaufen, sondern nahezu gradlinig. „Die Zukunft liegt bei der Fahrt über den Nordpol“, sagte Schwarz. Womöglich könnten Frachtschiffe auf der Nordostroute bald sogar das ganze Jahr über fahren. Wenn Reedereien jetzt in eisverstärkte Schiffe investierten, sei dies zwar zunächst vergleichsweise teuer. Langfristig werde sich das aber lohnen, ist sich Schwarz sicher.

Bisher müssen größere Schiffe von russischen Eisbrechern begleitet werden. Um die Infrastruktur auf der Route zu verbessern, baut das Land neue Seehäfen entlang der sibirischen Küste; außerdem habe es den Bau von drei starken Atomeisbrechern in Auftrag gegeben, sagte Schwarz.

Auf die kürzere Schiffsroute durch das Nordpolarmeer setzt vor allem China bei seinem Handel mit Europa. Im Juli werde die chinesische Regierung einen Führer für die Nordostpassage veröffentlichen, der den Seeweg für chinesische Frachter verkürzt, kündigte der Vizechef des Handelsschifffahrtsministeriums vor Kurzem in der Zeitung „China Daily“ an.

Gewaltige Vorkommen an Öl und Gas, unerschlossene Fischgründe und neue Schifffahrtsrouten – was die Industrie freut, macht Umweltschützern Sorgen. Es ist unklar, was Eingriffe in bisher weitestgehend unberührten Polargebieten bewirken könnten. Dabei geht es nicht nur um die Folgen für Tiere. Der Ruß, den durch die Nordostpassage pflügende Tanker in die Luft blasen, könnte sich auf dem verbliebenden Eis ablagern und es dadurch unter der Sonne noch schneller schmelzen lassen. Vermeiden ließe sich dies, wenn die Route nur von Tankern mit Elektro- oder Gasmotoren befahren würde.

In dem EU-Projekt ACCESS (Arctic Climate Change, Economy and Society) versuchen derzeit mehr als 80 Forscher von 27 Institutionen aus neun EU-Ländern den Einfluss des Klimawandels auf Frachtschifffahrt, Tourismus, Fischerei und marine Säugetiere im arktischen Ozean genauer abzuschätzen. Im kommenden Jahr sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden. Eingehender zu erkunden gilt es auch, wie die klimatischen Veränderungen in der Arktis sich auf andere Weltregionen auswirken. Der Rückgang des Meereises könnte den Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre beschleunigen und großräumig Winde beeinflussen. Noch sei der Einfluss der Arktis auf die atmosphärische Zirkulation aber zu wenig verstanden, sagte AWI-Forscher Jung. Im September wollen sich Klimaexperten auf einer Konferenz in Spanien über die jüngsten Erkenntnisse austauschen.

Es blieben allerdings immer Unsicherheiten, sagte die dänische Meeresgeologin Naja Mikkelsen. Phasen der Erwärmung habe es in der Erdgeschichte im Zuge natürlicher Schwankungen mehrfach gegeben. Es sei nicht völlig auszuschließen, dass es künftig in der Arktis auch wieder kälter werde.