Ob „Atemlos durch die Nacht“ oder ein Werbejingle: Ohrwürmer sind lästig. Kaum jemand ist vor der Dauermusikschleife gefeit – doch es gibt Gegenmittel. Wie Sie einen Ohrwurm in die Flucht schlagen.

Kassel/Hannover. Ein warmer Abend, ein kühles Getränk, ein nettes Buch – und plötzlich jubelt es „Jingle Bells“. Das Gebimmel und Gesinge im Kopf geht weiter und weiter, die ganze schöne Stimmung ist im Eimer. Fast jeder kennt das: Ein Ohrwurm wird in den unpassendsten Momenten aktiv und hört einfach nicht mehr auf.

Mit diesem Phänomen haben sich Forscher der unterschiedlichsten Fachrichtungen – Musikwissenschaftler, Neurologen, Physiologen und Psychologen – in den vergangenen Jahren eingehend beschäftigt. Alle Untersuchungen bestätigen: Kaum jemand ist vor der Dauermusikschleife gefeit. Studien des finnischen Kognitionsforschers Lassi Liikkanen haben 2011 ergeben, dass mehr als 90 Prozent der Befragten mindestens einmal pro Woche von einem Ohrwurm heimgesucht werden. Vergleichbare Ergebnisse kommen aus Großbritannien.

Sensible Personen sind besonders anfällig

Einige Personengruppen sind besonders empfänglich für Ohrwürmer. „Das scheint vor allem für Menschen zu gelten, die sich sehr viel mit Musik beschäftigen, die selbst musizieren, viel Radio hören oder eine große Plattensammlung haben“, sagt Prof. Jan Hemming, Musikwissenschaftler an der Universität Kassel. Auch Persönlichkeitsmerkmale spielen wohl eine Rolle, ergänzt Prof. Eckhart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover: „Besonders anfällig für Ohrwürmer sind sensible Personen mit niedrigen Reizschwellen.“

Einig sind sich die Wissenschaftler, dass ein Ohrwurm auf einer Gedächtnisleistung basiert. „Eine Melodie gelangt irgendwann über die Hörorgane ins Gehirn und wird im Langzeitgedächtnis eingespeichert“, erklärt Hemming. Wo genau das passiert, darüber gibt es bislang nur Vermutungen. Ohrwürmer lassen sich nicht gezielt erzeugen – und damit auch nicht mittels Magnetresonanztomografie oder im EEG in Aktion beobachten.

Um ins Langzeitgedächtnis Eingang zu finden, muss die Melodie bestimmte Charakteristika erfüllen. „Ohrwurmtaugliche Melodien enthalten keine großen Tonsprünge oder komplexe Rhythmen“, erläutert Altenmüller. Selten werden Instrumentalstücke zum Ohrwurm. „Ein Text mit einfachen Worten kann unterstützend wirken. Umgekehrt wird ein Lied in einer fremden Sprache, die man überhaupt nicht versteht, kaum zum Ohrwurm.“

Häufigkeit des Hörens spielt kaum eine Rolle

Eine eingängige Struktur alleine reicht also nicht. Auch die Häufigkeit des Hörens spielt wohl keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr ein innerer, emotionaler Bezug zu einer bestimmten Melodie. „Zu diesem Effekt kommt es, wenn jemand starke, meist positive, manchmal aber auch negative Gefühle mit dieser Melodie verbindet“, sagt Michael Deeg vom Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte in Neumünster. Der Sommerhit aus einem besonderen Urlaub oder der Lieblingssong der ersten Freundin haben beste Chancen, zum Ohrwurm zu avancieren. Diese emotionalen Schlüsselreize ebnen den Weg ins Langzeitgedächtnis und werden dort unbewusst mit abgelegt.

Beim Putzen kommt der Ohrwurm

Unwillkürlich kommt die Melodie dann irgendwann in Form einer Imagination wieder zum Vorschein. „Das geschieht bevorzugt in Situationen, wo im Gehirn Leerlauf herrscht“, sagt Hemming. Die Wissenschaftler bezeichnen diese Phasen als „mind wandering“. Beim Putzen, Joggen oder Warten an der Bushaltestelle sind die grauen Zellen kaum gefordert und können sich mit sich selbst beschäftigen. Eine Assoziation – ein Stichwort, ein Ort, ein Geruch oder auch eine Stimmung – stellt dann die Verbindung zu der gespeicherten Melodie her und aktiviert sie. Das kann wenige Stunden oder auch Jahre nach dem realen Hören geschehen.

„Die Melodie wird in Form von kurzen Sequenzen oder Fetzen aktiviert“, sagt Altenmüller. Die klassische Länge betrage zwischen vier und acht Sekunden. Welcher Teil des Liedes dann immer wiederkehrt, das sei bei jedem unterschiedlich. „Beim einen ist es der Anfang, beim nächsten ein bestimmter Reim oder die letzte Zeile des Textes.“ Wie lange diese innere Musik dudelt, ist genauso wenig vorhersehbar wie ihr Auftreten.

Was Forscher raten

Zum Loswerden gibt es verschiedene Techniken. Einige Forscher raten, das ganze Ohrwurmlied zu hören, um das Gehirn von der Fetzenwiederholung zu erlösen. HNO-Arzt Deeg empfiehlt, gezielt auf eine andere Melodie zu setzen: „Der Ohrwurm wird in den Bereichen des zentralen Nervensystems repräsentiert, die für das Hören generell zuständig sind.“ Das Gehirn könne nicht gleichzeitig den Ohrwurm wiedergeben und neue akustische Signale hören und verarbeiten. Doch Vorsicht: Es kann durchaus passieren, dass man sich mit dieser Strategie den nächsten Ohrwurm einfängt.

Manch ein Betroffener versucht, den vermeintlichen Leerlauf im Gehirn zu beenden. „Das geht beispielsweise, indem man sich auf eine Tätigkeit konzentriert, die angenehm fordert und mit wenig Emotionen verbunden ist“, sagt Hemming. Schachspielen, intensive Gespräche oder auch Sudokus sind prima Ablenkungsmanöver für die grauen Zellen.

Erfolglos sind solche Gegenmaßnahmen auf jeden Fall bei allen, die von Verwandten des Ohrwurms heimgesucht werden. „Ohrwürmer und akustische Halluzinationen liegen sehr nah beieinander“, sagt Deeg. „Gemeinsam ist allen, dass man meint, etwas zu hören, und dass dabei nicht das eigentliche Hörorgan, sondern das zentrale Nervensystem beteiligt ist.“ Während Ohrwurmopfer jedoch genau wissen, dass sie nichts hören, halten Patienten mit akustischen Halluzinationen die Geräusche für real. Solche Trugbilder treten meist im Zusammenhang mit Erkrankungen wie Schizophrenie oder Zwangsstörungen auf.