Flugzeugturbine oder Medikament: Kristallografie ist seit 100 Jahren Basis fast jeder technologischen Neuentwicklung

Hamburg . 45 Wissenschaftler wurden seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Nobelpreis für Arbeiten ausgezeichnet, die direkt oder indirekt mit Kristallografie zu tun hatten. Ob Materialforscher, Biologen oder Mediziner: „Die Kristallografie ist eine Routinemethode in der Forschung für jedes neue Material und jede neue Struktur“, sagt Prof. Helmut Dosch, Leiter des Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) in Hamburg, „so selbstverständlich wie die Vorsorgeuntersuchungen bei Neugeborenen.“

Der Ursprung der Kristallografie war ein Experiment vor 100 Jahren, ein „Jahrhundertexperiment“, wie Dosch sagt. 1914 wurde dem Münchner Forscher Max von Laue (1879–1960) dafür der Nobelpreis für Physik zuerkannt. In einem Keller der Universität hatte er zwei Jahre zuvor zusammen mit Kollegen einen feinen Röntgenstrahl auf Kupfersulfat geschossen. Auf den Fotoplatten dahinter entdeckten sie charakteristische Beugungsmuster. „Zum ersten Mal war gezeigt, dass die Welt aus Atomen und Molekülen besteht“, sagt Dosch. Die Funktion eines Materials konnte fortan mit seiner Struktur in Verbindung gebracht werden.

„Ihr Experiment gehört zu dem Schönsten, was die Physik erlebt hat“, schrieb Albert Einstein seinem Forscherkollegen Laue, nachdem dieser seine Ergebnisse präsentiert hatte. Bei der Röntgenkristallografie wird ein Kristall aus verschiedenen Richtungen beschossen. Die Röntgenstrahlen werden von den Atomen im Kristall gestreut und lassen ein charakteristisches Beugungsmuster entstehen. Aus ihm lässt sich auf die dreidimensionale Struktur des Kristalls, also die Position der einzelnen Atome darin, schließen. Mittlerweile passiert das über spezielle Algorithmen am Computer.

Von Hunderttausenden anorganischen und organischen Molekülen gibt es inzwischen Karten ihrer exakten atomaren Struktur. Ein Ende der Erfolge scheint nicht in Sicht. „Es gibt immer neue Revolutionen“, sagt Matthias Wilmanns, Leiter der Hamburger Einheit des Europäischen Molekularbiologie Laboratoriums (EMBL) und Direktor des Centre for Structural Systems Biology (CSSB) in Hamburg. „Der Enthusiasmus ist groß.“

Große Erwartungen werden etwa in eine neue Röntgenquelle gesetzt, den Freie-Elektronen-Laser. Desy baut derzeit mit elf internationalen Partnern eine solche Anlage, den European XFEL (X-Ray Free-Electron Laser). In dem 3,4Kilometer langen Tunnel soll besonders intensives Laserlicht erzeugt werden. „Die Intensität ist Dimensionen höher als bei der bisher verwendeten Strahlung“, sagt Wilmanns.

Die erste mithilfe der Kristallografie analysierte Struktur sei die von Kochsalz gewesen, erklärt Dosch. Der britische Forscher William Bragg und sein Sohn Lawrence verwendeten die Lauesche Technik für das Natriumchlorid (NaCl), bei dem gleich viele Natrium- und Chloratome ein kubisches Gitter formen – und erhielten dafür 1915 den Physiknobelpreis. In den Jahren danach wurden viele Kristalle wie Diamanten oder Graphit mittels Röntgenstrahlung untersucht, schließlich auch komplexere Moleküle wie das Penicillin. „Einer der größten Meilensteine war die Bestimmung der molekularen Struktur der DNA, des Moleküls also, das unsere Erbinformation speichert“, sagt Dosch. Aufbauend auf Beugungsexperimenten von Rosalind Franklin im Jahr 1952, entdeckten James Watson und Francis Crick, dass die Erbinformation in einer Doppelhelix kodiert ist. Watson und Crick wurden 1962 mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt, gemeinsam mit Maurice Wilkins, der mit der 1958 verstorbenen Franklin zusammengearbeitet hatte.

In den Jahren darauf wurden immer mehr Proteine und sehr große Moleküle analysiert, 1978 mit dem Tomatenzwergbuschvirus erstmals auch die komplette atomare Struktur eines Virus. Jahrzehnte tüftelten Forscher daran, aus nicht kristallinen Molekülen wie den Proteinen effizient Kristalle zu schaffen. Immer wieder seien neue Ansätze „spektakulär fehlgeschlagen“, heißt es in einer Sonderausgabe des Fachmagazins „Science“ zu 100 Jahren Kristallografie.

Ein großer Erfolg gelang kurz vor der Jahrtausendwende: Die Struktur des Ribosoms wurde aufgeklärt, eines gewaltigen Komplexes aus Proteinen und Ribonukleinsäuren (RNA). An ihm werden in den Zellen die Proteine entsprechend des im Erbgut festgelegten Bauplans hergestellt. „Die Menschheit hat damit die Möglichkeit in die Hand bekommen, genauer nachzuvollziehen, wie die Natur aus dem ausgelesenen Erbgut Moleküle strickt“, sagt Dosch.

Ada Jonath, derzeit Molekularbiologie-Professorin am Weizmann-Institut in Israel, hatte am Desy-Beschleuniger „Doris“ und anderen Forschungslichtquellen die Position der 30 bis 50 Millionen Atome einer solchen Proteinfabrik bestimmt. Ihr halbes Forscherleben habe die Wissenschaftlerin dieser Aufgabe gewidmet, sagt Dosch. In jahrelanger Tüftelarbeit sei es ihr Schritt für Schritt gelungen, immense Barrieren wie etwa die Strahlenschäden bei der Analyse der Proben zu überwinden.

„Allein schon diesen enormen Komplex in Kristalle bringen zu wollen, war ein wirklich verrückter Plan“, ergänzt Wilmanns. „Jonath war ihrer Zeit deutlich voraus.“ Die Forscherin habe sowohl die Reinigung und Kristallisation von Proteinen als auch die Datenaufnahme weit nach vorn getrieben. 2009 wurde Jonath zusammen mit Venkatraman Ramakrishnan und Thomas Steitz der Chemie-Nobelpreis verliehen.

Eine der wichtigsten Anwendungen ihrer Erkenntnisse liegt in der Medizin: Viele Antibiotika hemmen die Tätigkeit bakterieller Ribosomen, die dann keine neuen Proteine mehr herstellen können – im Idealfall stirbt der Keim. Ein wichtiger Ansatzpunkt für neue Medikamente seien auch bestimmte Membranproteine, erklärt Wilmanns. In der Pharmaforschung sei es Standard, potenzielle neue Wirkstoffe kristallografisch zu erfassen. „So lässt sich schon am Computer die Interaktion mit Molekülen des Körpers prüfen“, so der Strukturbiologe. „Zum Beispiel ist zu sehen, ob der Wirkstoff auch an unerwünschter Stelle binden würde.“

Vor allem die großen, teuren Anlagen wie in Stanford (USA), im Harima Science Park (Japan) oder eben in Hamburg liefen Tag und Nacht, beschreibt Wilmanns. Die Datensammlung selbst dauere je Streubild nur Sekunden, die Vorbereitung der jeweiligen Aufnahme einige Stunden. „An der Kristallisation haben viele Forscher davor aber mehrere Jahre gearbeitet.“ In der Regel werden auf minus 170 Grad gekühlte Proben verwendet, weil die Kristalle dann stabiler sind. „Ein Roboter bringt die Probe in den Weg des Strahls.“

Mitunter schickten Forscher nur die Probe, oft stünden sie aber auch bei der Messung dabei. „Das ist dann schon ein sehr aufregender Moment nach all der harten Arbeit“, so Wilmanns. „Und nicht alles funktioniert auch wirklich, da kann die Frustration groß sein.“ Eine der größten Herausforderungen sei, dass immer mehr Materialien nicht mehr in kristalliner Form vorlägen, etwa aus dem Nanobereich oder organische Materialien, erläutert Dosch. „Organische Solarzellen zum Beispiel.“ Solche Strukturen entzögen sich der klassischen Röntgenstrukturaufklärung.

Schwierigkeiten gebe es auch bei der Analyse von Membranproteinen, deren Funktion von essenzieller Bedeutung für etliche Vorgänge im Körper sei. „Sie sind flach und nur über aufwendige Verfahren oder gar nicht in kristalline Form zu bringen“, erklärt Dosch. Ein drittes Problem seien die schnellen Bewegungen von Molekülen, die verwischte Aufnahmen zur Folge hätten. „Man muss also schneller fotografieren als sich die Moleküle bewegen, schneller als Pikosekunden, Bruchteile von millionstel Sekunden“, erklärt der Desy-Direktor. „In so kurzer Zeit überstreicht Licht gerade einmal die Distanz der Dicke eines Haares.“

Der Freie-Elektronen-Laser European XFEL werde extrem kurze Pulse von billionstel Sekunden aussenden, sagt Dosch. „Mit ihm möchten wir ermöglichen, nicht-kristalline Materialien zu untersuchen, und das so schnell, dass schlierenfreie Aufnahmen möglich sind.“ Das vergangene Jahrhundert sei das der Kristalle gewesen, nun rückten ungeordnete Strukturen wie Flüssigkeiten und organische Substanzen in den Fokus. „Das wird die nächste Jahrhundertaufgabe.“ Und noch etwas bisher meist Unmögliches soll die mehr als eine Milliarde Euro Baukosten teure XFEL-Anlage möglich machen: „Wir wollen in Echtzeit das Entstehen und Brechen chemischer Bindungen auf atomarer Skala beobachten.“

Doch auch die herkömmliche Kristallografie hat ein Jahrhundert nach ihrer Erfindung noch Überraschungen zu bieten: US-Forscher entdeckten damit Kochsalzverbindungen, die es Chemie-Lehrbüchern zufolge gar nicht geben dürfte. Unter 200.000-fachem Atmosphärendruck und Hitze schufen sie aus dem herkömmlichen NaCl „verbotene“ Substanzen wie Na3Cl und NaCl3. Für andere Substanzen seien ähnliche chemische Grenzgänge zu erwarten, schreibt das Team um Artem Oganov von der Stony Brook University in New York in „Science“.

Normales Kochsalz besteht aus zwei Atomsorten – inzwischen können Moleküle mit mehreren Hunderttausend Atomen kristallografisch analysiert werden. Die Methode mag sich im Hintergrund abspielen – oft aber ist sie ganz vorn mit dabei. Und das inzwischen sogar weit entfernt von der Erde: Im Jahr 2012 nutzte der Rover „Curiosity“ erstmals Röntgenstrahlen für Molekülanalysen auf dem Mars.