Dass Säuglinge in der Nacht aufwachen, könnte ein Trick der Evolution sein. Denn Stillen verzögert den Eisprung – und damit die Geburt eines Geschwisterchens

Cambridge. Kaum etwas beschäftigt Neueltern so stark wie die Nachtruhe ihres Sprösslings. Nur die wenigsten Neugeborenen schlummern nachts sechs Stunden oder länger durch – und das aus gutem Grund, schreibt der Evolutionsbiologe David Haig im Fachjournal „Evolution Medicine, and Public Health“. Regelmäßiges Stillen auch in der Nacht wirke empfängnisverhütend. Das Neugeborene schütze sich mit seinen nächtlichen Forderungen effektiv vor Konkurrenz. Zudem bekomme es in vielen Fällen insgesamt mehr Nahrung als ein nur tagsüber gestilltes Baby.

Bei jedem Stillen wird das Hormon Prolaktin ausgeschüttet, das für die Milchbildung sorgt – aber auch den Eisprung hemmt. Viele Mütter bekommen erst beim Abstillen ihres Babys wieder eine Periode. Die natürliche Selektion könnte aus diesem Grund in den vergangenen Jahrtausenden Neugeborene bevorzugt haben, die ihre Mütter nächtens regelmäßig weckten und Nahrung forderten, schreibt Haig, Evolutionsbiologe an der Harvard University in Cambridge. „Stillen hat viele Vorteile, ein guter Nachtschlaf gehört für viele Mütter allerdings nicht dazu.”

In früheren Zeiten – und in einigen Kulturen auch heute noch – sei die Überlebenschance von Kindern gesunken, je eher ein jüngeres Geschwisterchen auf die Welt kam. Vor allem in den ersten Jahren sei es für sie von großem Vorteil gewesen, die Geburt eines weiteren Kindes zu verzögern, schreibt Haig. Eine Untersuchung im ländlichen Senegal habe gezeigt, dass die Kindersterblichkeit im zweiten Lebensjahr mit einem jüngeren Geschwisterchen bei 16 Prozent lag – ohne weiteres Baby in der Familie bei nur vier Prozent.

Evolutionsbiologisch betrachtet sei das mehrfache Erwachen höchst sinnvoll, zumindest für das Kind, erklärt der Harvard-Forscher. Sein Ziel stehe dabei in evolutionärem Konflikt mit dem der Eltern: Deren biologischer Erfolg sei mit einem möglichst geringen Abstand zwischen den Nachkommen höher gewesen. Zwar starben mehr Babys als bei größerem Altersunterschied, weil weniger Nahrung und Aufmerksamkeit für jedes Einzelne blieb. Die höhere Kinderzahl habe dies aber mehr als wettgemacht. Haigs Hypothese zur Ursache der nächtlichen Wachphasen von Babys ist allerdings nicht gänzlich neu: Nicholas Blurton Jones und Elizette da Costa hatten über den möglichen Zusammenhang bereits 1987 im Journal „Ethology and Sociobiology” berichtet.

Die Gesundheit und das Wohlbefinden der Eltern spielten allerdings bei der Evolution keine Rolle, solange die Weitergabe des Erbguts an möglichst viele Nachkommen dadurch nicht oder nur wenig beeinträchtigt werde, meint Haig. „Wir haben uns nicht entwickelt, um glücklich oder gesund zu sein, sondern um möglichst viele Nachkommen zu hinterlassen.“

Heute bestimmten zumindest in Industrieländern moderne Verhütungsmittel die Familienplanung, schreibt Haig. Das nächtliche Aufwachen der Babys sei aber ein über lange Zeit entstandener evolutionsbiologischer Mechanismus, der sich nicht so rasch an neue Gegebenheiten anpasse. Die Hypothese, dass sich zwischen Mutter und Baby eine Art Tauziehen um die richtige Anzahl nächtlicher Stillmahlzeiten entwickelt habe, sei sehr interessant, kommentiert Herbert Renz-Polster vom Mannheimer Institut für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin. Als gesichertes Grundlagenwissen sei sie aber nicht zu verstehen.

„Wir meinen oft, in einem so wichtigen Haus wie dem der Familie müssten alle Schlüssel zu den Schlössern passen. Wenn es unter dem Strich irgendwo aufgehen sollte, dann innerhalb der Familie – als sei sie ein Gegenpol zu der ,echten‘, rauen, von Konkurrenz geprägten Welt, schreibt Renz-Polster in seinem Buch „Kinder verstehen“. „Beziehungen in der Familie können aus evolutionsbiologischer Sicht gar nicht immer harmonisch sein, denn auf den elterlichen Ressourcen befindet sich ein Deckel – selbst die ,Goldmine Mama‘ ist erschöpflich.“ Haig wirbt für einen entspannteren Umgang mit diesem und anderen evolutionär begründeten Eltern-Kind-Konflikten. „Es gibt keinen verlorenen Garten Eden perfekter Harmonie zwischen Mutter und Kind“, schreibt er. „Genetische Konflikte innerhalb der Familie sind Teil unseres biologischen Erbes, ebenso wie Liebe und Fürsorge für unsere Kinder.”

In einem Kommentar des Fachjournals „Evolution Medicine, and Public Health“ befürwortet Bernard Crespi von der Simon Fraser University in Kanada Haigs Hypothese. Mediziner und Öffentlichkeit berücksichtigten solche evolutionären Prinzipien „bemerkenswert wenig“. Ein weiteres Beispiel für einen möglichen Mutter-Kind-Konflikt sei die Präeklampsie, schreibt Crespi. Bei der Erkrankung kommt es in der zweiten Schwangerschaftshälfte zu erhöhtem Blutdruck, im Gewebe lagert sich verstärkt Wasser ein. Für die Mutter seien die Symptome schädlich – der Fötus aber profitiere meist von dem höheren Blutdruck und wachse besser, schreibt Crespi. Einer stillenden Mutter, die über das ständige nächtliche Gewecktwerden vielleicht auch mal wütend oder verärgert sei und sich dann dafür schäme, könne es helfen, sich der biologischen Grundlagen bewusst zu sein. Harvard-Forscherin Katie Hinde ergänzt in einem weiteren Artikel des Journals „Evolution, Medicine, and Public Health“, dass bei den nächtlichen Unterbrechungen auch andere Faktoren bedeutsam sind. So gebe es Hinweise, dass sie das Risiko des plötzlichen Kindstodes minderten.

Als zu vereinfachend wird Haigs Hypothese von James McKenna von der University of Notre Dame (USA) kritisiert. Beim unterbrochenen Babyschlaf gebe es viele sehr verschiedene Formen, zudem spielten etliche Faktoren wie etwa Wärmeregulation oder Bewegungen und Laute der Mutter eine große Rolle. In wärmerer Umgebung wachten Babys zum Beispiel öfter auf, schreibt der Anthropologe. Eine Studie seines Teams habe ergeben, dass in 40 Prozent der Fälle, in denen ein Baby aufwachte, einige Sekunden zuvor die Mutter wach geworden war.

Bedürfnisse der Säuglinge werden oft zu wenig berücksichtigt

Auch McKenna nennt ein niedrigeres Kindstod-Risiko als bedeutsamen Faktor. Von der Mutter berührt oder mit Worten beruhigt zu werden, löse beim aufgewachten Baby eine ganze Reihe physiologischer Veränderungen aus. Das Herz schlage schneller, der Sauerstoffgehalt im Blut nehme zu. Babys, die neben ihrer Mutter schlafen, wenden dieser fast die gesamte Nacht lang ihr Gesicht zu, so McKenna. Generell sei die Wahrnehmung der Elternschaft in westlichen Kulturen oft auf Probleme fixiert. In den USA etwa würden Geburten als schmerzhafte, gefährliche Notfallsituationen gesehen. Schon vor der Geburt konzentrierten sich Eltern zudem darauf, wie entsetzlich es sein wird, mit den Schlafgewohnheiten des Nachwuchses umzugehen. Ureigensten Bedürfnissen der Säuglinge werde entgegengewirkt: Den derzeit gängigen medizinischen Empfehlungen folgend schliefen sie oft nicht nahe ihren Eltern, generell werde der Körperkontakt minimiert.

Er halte strikte Empfehlungen für eine bestimmte Art der Fütterung oder der Schlafsituation für falsch, betont der Anthropologe. Das Baby mit im eigenen Bett schlafen zu lassen, sei nicht generell und immer als gefährlich einzustufen. Schon mehrfach hätten sich solche Regeln als falsch erwiesen – etwa die Empfehlung, Säuglinge mit Flaschenmilch zu füttern und sie auf dem Bauch schlafen zu lassen. Inzwischen gilt Letzteres als Risikofaktor für den plötzlichen Kindstod.