Wenn es um die Intelligenz von Tieren geht, stehen Säugetiere und Vögel im Mittelpunkt des Interesses. Die Reptilien sind dagegen lange unterschätzt worden

Krokodile gelten nicht unbedingt als geistige Überflieger. Stundenlang bewegungslos am Flussufer herumliegen, zwischendurch abtauchen und ab und zu ein unvorsichtiges Beutetier schnappen – viel mehr scheinen sie auf den ersten Blick nicht auf Lager zu haben. „Die meisten Menschen halten Krokodile für lethargisch, dumm und langweilig“, resümiert Vladimir Dinets von der University of Tennessee in Knoxville. Der Zoologe hat im Rahmen seiner Forschungsarbeit allerdings einen ganz anderen Eindruck gewonnen. Erst kürzlich hat er herausgefunden, dass zumindest zwei Krokodil-Arten auf eine raffinierte Jagdtechnik setzen, bei der sie ihre Opfer mithilfe von Stöcken ins Verderben locken. Damit gehören die Panzerechsen zum ziemlich kleinen und exklusiven Kreis von Tieren, die Werkzeuge einsetzen – eine Fähigkeit, die noch vor ein paar Jahrzehnten als typisch menschlich galt. Und sie sind nicht die einzigen Reptilien mit ungeahnten Talenten. Auch Schildkröten und Warane sind offenbar lange unterschätzt worden.

Krokodile lockten nistwillige Reiher mit Zweigen auf ihren Schnauzen an

Das liegt wohl auch daran, dass sich die meisten Verhaltensforscher traditionell lieber auf Säugetiere oder Vögel konzentriert haben. Wenn es um geistige Talentsuche ging, schienen das einfach deutlich vielversprechendere Kandidaten zu sein. Doch spielen diese Tiere mental tatsächlich in einer anderen Liga als Krokodile und Co.? Immerhin gehen alle Reptilien, Vögel und Säugetiere auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück, der vor etwa 280 Millionen Jahren lebte. Es könnte also durchaus noch ein gemeinsames geistiges Erbe geben.

Wie das genau aussehen könnte, ist allerdings schwer zu sagen. Denn für einen umfassenden Talentvergleich sind die Fähigkeiten von Reptilien einfach noch nicht gut genug untersucht. So gibt es zwar unzählige Studien über den Werkzeuggebrauch von Säugetieren und Vögeln. Das Spektrum reicht von Schimpansen, die mit Steinen Nüsse knacken, bis zu Krähen, die mit Drahtstücken nach Futter stochern. Doch bis vor kurzem war kein einziges Reptil bekannt, das sich den Alltag mit irgendwelchen Hilfsmitteln erleichtert. Bis Vladimir Dinets und seine Kollegen auf die fallenstellenden Krokodile stießen.

Zum ersten Mal hat der Forscher das seltsame Verhalten bei Sumpfkrokodilen in Indien beobachtet. Stundenlang lagen die Tiere bewegungslos im flachen Wasser eines Tümpels und balancierten kleine Zweige auf ihren Schnauzen. Erst als ein Reiher landete und den Schnabel nach einem solchen Ästchen ausstreckte, kam Leben in die Szenerie: Urplötzlich schnappte das Krokodil zu. Ein Zufall? Oder hatte das Reptil die Zweige absichtlich auf der Schnauze platziert, um eine gefiederte Beute anzulocken? Nistmaterial ist in Reiherkolonien oft knapp, so dass ein Stöckchen ein durchaus wirksamer Köder für solche Vögel sein könnte. Dafür sprachen auch die Erfahrungen, die langjährige Mitarbeiter einer Krokodilfarm in Florida gemacht hatten. Die dortigen Mississippi-Alligatoren zeigten ebenfalls ein Faible für Zweige auf der Schnauze – und hatten auch immer wieder Erfolg bei der Reiherjagd.

Vladimir Dinets beschloss, der Sache systematisch auf den Grund zu gehen. Ein Jahr lang hat er Alligatoren überwacht, die in verschiedenen Gewässern Louisianas lebten – mal mit und mal ohne Reiherkolonien in der Nachbarschaft. Die Ergebnisse waren eindeutig: Stöcke auf der Nase zu tragen ist in Alligator-Kreisen offenbar nur zur Reiher-Brutzeit angesagt – vor allem in der Nestbauphase zwischen März und April. Und die Anwohner der Vogelkolonien zeigten dieses Verhalten deutlich häufiger als ihre Kollegen in anderen Abschnitten des Gewässers. Die Tiere scheinen also nicht nur Werkzeuge zu benutzen, sondern deren Einsatz sogar auf die Jagdsaison abzustimmen. Allerdings wissen die Forscher noch nicht, ob es sich um ein angeborenes oder erlerntes Verhalten handelt, um eine von jedem Tier individuell entwickelte Strategie oder um eine Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. „Jedenfalls zeigen die Ergebnisse, wie leicht man die Intelligenz sogar von gut bekannten Tieren unterschätzen kann“, meint Vladimir Dinets.

Diese Erfahrung haben auch andere Verhaltensforscher gemacht. Ein beliebter Intelligenztest für Tiere besteht zum Beispiel darin, ihnen Fotos zu zeigen. Begreifen die Kandidaten, was darauf zu sehen ist? Und erkennen sie den Unterschied zwischen dem Abbild und dem realen Gegenstand? Etliche Vögel und Säugetiere sind dieser anspruchsvollen geistigen Herausforderung gewachsen. Aber wie würden sich Reptilien schlagen? Ein Team der University of Lincoln in Großbritannien und der Universität Wien hat das an südamerikanischen Köhlerschildkröten getestet.

Die Forscher haben den Reptilien zunächst die Wahl zwischen einem fressbaren und einem nicht fressbaren Objekt gelassen. Entschieden sie sich für das fressbare, durften sie es verspeisen. Sobald die Tiere diesen Zusammenhang begriffen hatten, ersetzten die Wissenschaftler die echten Gegenstände durch Farbfotos. Das aber hatte kaum Einfluss auf die Entscheidung der Tiere – sie erkannten durchaus, auf welchem Foto ein schmackhaftes Stück Obst zu sehen war und auf welchem nicht. An ihre Grenzen gerieten die Schildkröten allerdings, als sie sich zwischen Bild und echtem Objekt entscheiden sollten. In diesen Fällen wählten sie nur nach dem Zufallsprinzip. Sie konnten also nicht unterscheiden, ob es sich um einen realen oder nur um einen virtuellen Leckerbissen handelte.

Soziales Lernen funktioniert auch ohne ein geselliges Zusammenleben

Bei anderen Tests haben die Tiere dagegen überraschend gut abgeschnitten. So folgen sie bereitwillig dem Blick eines Artgenossen. Wenn der einen Lichtpunkt oben an der Wand fixiert, den sie selbst nicht sehen können, schauen sie in den meisten Fällen ebenfalls nach oben. Das klingt erst einmal nicht sonderlich spektakulär. Es kann jedoch sehr nützlich sein, wenn man darauf achtet, wohin die Gefährten schauen. Vielleicht haben sie ja einen Feind oder eine Nahrungsquelle entdeckt. Viele Primaten, aber auch Ziegen und Rabenvögel handeln offenbar genau nach dieser Devise. Nur führen die in freier Wildbahn ein deutlich geselligeres Leben als Köhlerschildkröten. Warum sollten diese Einzelgänger viel Interesse für die Blickrichtung ihrer Artgenossen aufbringen? Die Forscher vermuten, dass es sich bei diesem Verhalten um ein Erbstück des gemeinsamen Ahnen von Reptilien, Säugetieren und Vögeln handeln könnte. Möglicherweise haben die einzelgängerischen Schildkröten es einfach behalten, ohne noch viel Verwendung dafür zu haben.

Allerdings haben die gepanzerten Südamerikaner auch in anderen Versuchen bewiesen, dass man sich trotz eines Hangs zur Eigenbrötlerei durchaus erfolgreich an seinen Artgenossen orientieren kann. Zum Beispiel wenn es gilt, um ein Hindernis herum zu einer Futterstelle zu laufen. Wenn sie auf sich allein gestellt waren, scheiterten sämtliche getesteten Tiere an dieser Aufgabe. Hatten sie dagegen vorher einen Kollegen beobachtet, der die Umleitung schon kannte, erreichten sie das Ziel problemlos – manche sogar schon beim ersten Versuch. Und sie konnten ihr Wissen sogar auf neue Situationen übertragen, in denen das Hindernis zum Beispiel eine andere Form hatte. Damit haben die Forscher zum ersten Mal nachgewiesen, dass soziales Lernen auch ohne ein geselliges und komplexes Zusammenleben funktioniert.