In der Nähe von Atomkraftwerken werden mehr Jungen geboren. Unklar ist, ob radioaktive Strahlung daran schuld ist.

Berlin. „Mehr Jungs durch radioaktive Strahlung“, oder „Mädchenmangel rund um Gorleben“: Diese Schlagzeilen gab es bereits im Jahr 2011. Der Biomathematiker Hagen Scherb vom Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt in München veröffentlichte damals eine Studie, die zeigte, dass die Strahlung nach den Atombombentests in den 60er-Jahren und dem Reaktorunfall in Tschernobyl einen Langzeiteffekt auf das Geschlechterverhältnis in Deutschland hat. Dieser Effekt zeige sich auch bei der Bevölkerung rund um Nuklearanlagen, so die Forscher. Seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl fehlen in Westeuropa demnach 220.000 Mädchen.

Nun hat Scherb in einer aktuellen Studie nicht nur Deutschland, sondern auch zwei Nachbarländer untersucht. „Wir haben für Gebiete rund um Nuklearanlagen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz den gleichen Effekt nachgewiesen – es wurden weniger Mädchen geboren, als statistisch zu erwarten wäre“, so Scherb. In Deutschland erfasste er in einem Zeitraum von 1957 bis 2012 die Geburtenzahlen von mehr als 18.000 Gemeinden. In der Schweiz waren es etwa 2700 Gemeinden und in Frankreich zwischen 1968 und 2011 mehr als 36.500 Gemeinden. Insgesamt wurden über 70 Millionen Geburten erfasst. Für jedes Gebiet um nukleare Anlagen – Kernkraftwerke, Endlager oder Forschungsreaktoren – sei eine Abweichung vom erwarteten Geschlechterverhältnis von mindestens einem Prozent nachzuweisen, sagt Scherb. Ein Problem der Studien ist, dass sie den Effekt der „verlorenen Mädchen“ zwar statistisch nachweisen; dass aber radioaktive Strahlung die Ursache dafür ist, kann Scherb mit seiner Methode nicht beweisen.

Aus biologischer Sicht versucht deshalb Karl Sperling, ehemaliger Direktor des Instituts für Humangenetik der Charité in Berlin, eine Erklärung zu finden. Der Zytogenetiker hat eine Hypothese für die „sex odds“, die Verschiebung des Geschlechterverhältnisses in der Nähe nuklearer Anlagen, aufgestellt. „Wir wissen nicht, wie das Geschlechterverhältnis im Moment der Befruchtung ist“, sagt Sperling. „Was wir aber wissen ist, dass 60 Prozent der befruchteten Eizellen in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft unbemerkt absterben. Bei weiteren zehn Prozent der Embryonen kommt es zu einer Fehlgeburt. Das bedeutet, dass nur 30 Prozent aller Befruchtungen auch zur Geburt eines Kindes führen.“

Epigenetische, also durch die Umwelt verursachte Veränderungen könnten auch schon aufgrund sehr geringer Strahlendosen auftreten und dazu führen, dass mehr weibliche Embryonen absterben als männliche. Denn die Veränderungen könnten bei der Bildung der Keimzellen eine Rolle spielen und einen stärkeren Einfluss auf die X-Chromosomen haben, als auf die kleineren Y-Chromosomen, so der Forscher. Sei ein Mann radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen, könne das dazu führen, dass in seinen Spermien, die X-Chromosomen tragen, eine Veränderung auftritt. Die Veränderung wird dann durch die Befruchtung an den entstehenden weiblichen Embryo weitergegeben. Ist das X-Chromosom soweit verändert, dass es nicht mehr richtig funktioniert, wäre der weibliche Embryo nicht lebensfähig.

Unter anderem mache die Größe das X-Chromosom anfälliger für solche lebensfeindlichen Veränderungen. Das kleinere, zur Entstehung männlicher Nachkommen notwendige Y-Chromosom hingegen sei nicht so gefährdet. So würden mehr Mädchen in einem frühen embryonalen Stadium absterben als männliche Embryonen. „Scherb hat bislang in 38 Ländern eine solche signifikante Zunahme von neugeborenen Jungen nachgewiesen“, sagt Sperling. Die Daten seien über viele Jahre hinweg vollständig und mit zeitlichem Bezug zum Auftreten von radioaktiver Strahlung, dadurch würden sie eine Dosis-Effekt-Beziehung aufzeigen.

Thomas Jung vom Bundesamt für Strahlenschutz hinterfragt den Effekt der „verlorenen Mädchen“ generell. Es gebe viele Studien, in denen Personen radioaktiver Strahlung ausgesetzt worden waren. So seien etwa Menschen untersucht worden, die als Kinder eine Strahlentherapie erhalten und später eigene Kinder bekommen hatten. Auch hier habe sich eine Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses gezeigt – allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Männer, die als Kind bestrahlt worden waren, zeugten demnach eher weniger Jungen als statistisch zu erwarten wäre. Der von Scherb beschriebene „Verlorene-Mädchen-Effekt“ sei hier also nicht nachzuweisen.

Jung verweist auch auf methodische Probleme bei Studien, wie Hagen Scherb sie durchführt. Es sei schwer, Einflussfaktoren auf das Geschlechterverhältnis zu bewerten, da die Zahlen nicht zeigen, ob Vater oder Mutter radioaktiver Strahlung ausgesetzt worden waren. „Weil diese Individualdaten fehlen, kann man eine Auswertung und Interpretation von Daten nur sehr vorsichtig vornehmen“, sagt Jung. „Die Aussage, dass Strahlen die Ursache für das veränderte Geschlechterverhältnis sind, ist demnach nicht belastbar.“

Wegen der Unsicherheiten diskutieren Experten über eine Veränderung des Grenzwertes für radioaktive Strahlung. Scherb und die emeritierte Physikprofessorin Inge Schmitz-Feuerhake, die auf dem Gebiet des Strahlenschutzes forschte, fordern mehr Aufmerksamkeit dafür, dass auch geringe Dosen schädlich sein können. Die Grenzwerte müssten reduziert werden.