In einem neuen Atlas dokumentiert das Bundesamt für Naturschutz die Veränderungen der heimischen Flora. Hamburg bildet einen sogenannten Hotspot der Pflanzenvielfalt in Deutschland.

Bonn/Hamburg. Das Dänische Löffelkraut erobert Deutschland. Die Küstenpflanze kann mit Meersalz umgehen, wächst auf Salzwiesen und Strandrasen. Seit Jahrzehnten macht das Kraut seinen Weg ins Landesinnere – entlang von Autobahnen. Denn die Fernstraßen werden im Winter regelmäßig mit Streusalz behandelt, so dass sich am Fahrbahnrand neuartige „Salzwiesen“ bilden. Dies ist einer von Tausenden Aspekten, die der erste bundesweite Pflanzenatlas für Deutschland enthält. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) hat das fast 30 Millionen Datensätze umfassende Werk am Mittwoch am Amtssitz in Bonn präsentiert.

Das Löffelkraut nahm die A7 nach Hamburg, vielleicht auch die A1 aus Richtung Süden, nicht jedoch die A1 aus Lübeck. Das legt die Verbreitungskarte von Cochlearia danica (so der lateinische Name) nahe. Das weiß blühende Kraut ist zwar nach Hamburg eingewandert, gilt hier aber dennoch als einheimische Art. Denn die Unterscheidung von heimischen und nicht heimischen Pflanzen (Neophyten) orientiert sich an der deutschen Staatsgrenze.

Hamburg als Tor zur Welt beherbergt eine reiche Vielfalt von „eingeborenen“ und exotischen Pflanzen. Die heimische Flora ist artenreich, weil die Stadtfläche sehr unterschiedliche Lebensräume bietet: feuchte und trockene Wälder, sandige Geest und nährstoffreiche Marsch, zahlreiche Gewässer, Flussauen und -inseln, Moore und Heiden. Dazu gesellen sich eingewanderte Arten, die etwa über den Hafen, über Schienenwege oder an den Schuhsohlen von Touristen „per Anhalter“ in die Stadt reisten. Oder sich aus Gärtnereien, Gärten und Parks verbreiteten.

Fast 400 Arten und Unterarten

Die Daten des Pflanzenatlas zeigten „die Bedeutung der großen Städte als Einfallstore für gebietsfremde Arten an“, sagt BfN-Präsidentin Prof. Beate Jessel. Insgesamt sind in dem gut 900-seitigen Werk rund 3900 Sippen (Arten und Unterarten) von Farn- und Blütenpflanzen erfasst – davon sind 38 Prozent Neophyten. Die Hälfte der Neuankömmlinge hat sich inzwischen etabliert, die andere Hälfte stellen die „unbeständigen Neophyten“, die eher sporadisch auftauchen oder so empfindlich sind, dass etwa ein strenger Winter einen Bestand wieder auslöschen kann.

Das Einfallstor Hamburger Hafen habe sich in den vergangenen Jahren allerdings mehr und mehr verschlossen, sagt Horst Bertram, Zweiter Vorsitzender des Botanischen Vereins zu Hamburg: „Der Hafen war früher ein Hotspot der Botaniker. Doch die Zunahme der Containerisierung, durch die kaum noch Samen beim Be- und Entladen verloren gehen, und die stärkere Versiegelung der Hafenflächen lassen es kaum noch zu, dass gebietsfremde Arten hier Wurzeln schlagen.“

Viele Zuzügler sind harmlos, einige stören Mensch und Natur. So stuft das BfN den Riesen-Bärenklau als sogenannte invasive Art ein. Die Exoten machen sich so mächtig breit, dass sie heimische Konkurrenz verdrängen und im Fall des Riesen-Bärenklaus die Flussufer verändern. Beim Menschen kann die im 19. Jahrhundert als Zierpflanze eingeführte Art starke allergische Reaktionen auslösen und wird deshalb in Hamburg und andernorts amtlich bekämpft.

Zusammen mit der Elbtalaue bildet Hamburg den nördlichsten von rund einem Dutzend sogenannter Hotspots der Pflanzenvielfalt in Deutschland. Entscheidend ist dabei nicht unbedingt eine möglichst hohe Artenzahl. Ziel des Naturschutzes sei vielmehr, „standortspezifische und natürliche Vielfalt mit ihren Ökosystemfunktionen zu erhalten“, so das BfN. Ein gutes Beispiel sind die Salzwiesen der Nordseeküste. Nicht viele Arten können hier überleben. Doch diejenigen, die es tun, sind ausgesprochene Spezialisten, die ausschließlich an der Küste vorkommen – die Verbreitung über Autobahnrandstreifen mal ausgenommen.

Andere Spezialisten sind die Hungerkünstler der Botanik: Pflanzen, die auf nährstoffarmen Böden wachsen. Sie sind durch die Nährstoff-Überdosis aus Landwirtschaft und Luftverschmutzung gefährdet. Diese Stickstoff-Einträge lassen Allerweltspflanzen wachsen, die das reichliche Nahrungsangebot besser nutzen können als die Hungerkünstler und diese schließlich verdrängen. Der Pflanzenatlas enthält eine Karte, die das Vorkommen von Pflanzen mit geringem Nährstoffbedarf zusammenfasst. Sie zeige „landwirtschaftlich weniger beeinflusste Gebiete mit armen Böden“, die für den Naturschutz besonders interessant seien, so das BfN. Dazu zählen auch Teile der Lüneburger Heide.

Bauprojekte setzen Pflanzen zu

Neben der Überdüngung setzen unter anderem Pflanzenschutzmittel, die Zunahme von Ackerfläche und Bauprojekte der Pflanzenwelt zu. Aber das Beispiel der Kornblume (Centaurea cyanus) zeigt, dass sich im Niedergang begriffene Arten dank gezielter Maßnahmen wieder erholen können. Bis in die 60er-Jahre prägten Kornblumen vielerorts als bläuliche Schleier die Getreidefelder. Dann verdrängten die intensivere Bewirtschaftung und die verbesserte Saatgutreinigung die Charakterpflanze so weit von den Feldern, dass sie regional selten wurde. Ackerrandstreifen, die für den Naturschutz weniger stark gedüngt und nicht mit Herbiziden behandelt wurden, sowie der Öko-Landbau ließen die Kornblume wieder aufkeimen. Heute ist sie, mit Ausnahme Schleswig-Holsteins, wieder in ganz Norddeutschland verbreitet.

Etwa 5000 ehrenamtliche Helfer trugen mit ihren Bestandsaufnahmen zum Pflanzenatlas bei. Er dokumentiert nicht nur den Wandel der Vergangenheit, ein Verbreitungsmuster, das durch klimatische und menschliche Einflüsse und aufgrund der Bodenbeschaffenheit entstanden ist. Er bildet auch eine Referenz für die Analyse zukünftiger Entwicklungen. So kann er nun die Basisdaten für Modellrechnungen liefern, die etwa die zukünftig zu erwartende Veränderung der Flora durch den Klimawandel simuliert.

Ein erster umfassender Atlas entstand 1988 für die damaligen elf Bundesländer. 1996 folgte das Pendant für die neuen Länder – erst jetzt ist die Vereinigung geschafft. Für die Hamburger Pflanzenwelt ist ebenfalls ein Atlas vorhanden, herausgegeben im Jahr 2010 vom Botanischen Verein. Das Werk bildete die Grundlage der nun deutschlandweit veröffentlichten Daten zu den Hamburger Pflanzengesellschaften, knapp 30 ehrenamtliche Botaniker hatten sie zusammengetragen.

„Wir sammeln weiter“, sagt Horst Bertram vom Botanischen Verein. Das gilt auch für die Pflanzenkundler der anderen Bundesländer. Sie alle sind im Netzwerk Phytodiversität Deutschland (NetPhyD, Netzwerk Pflanzenvielfalt Deutschland) zusammengeschlossen. Das ist ganz im Sinne der BfN-Präsidentin Jessel: „Die kontinuierliche Erfassung unserer Pflanzenwelt ist Grundlage des Ziels, die natürliche und standortspezifische Vielfalt zu erhalten. Sie bleibt daher eine wichtige Daueraufgabe.“