Überreste des Ersten Weltkrieges: Archäologen stießen in Belgien auf ein gigantisches System aus Schützengräben und Tunneln

Mesen. Aus der Grubenwand ragt etwas, das aussieht wie ein schlammverschmiertes Stück Papier. Simon Verdegem begutachtet das Gebilde aufmerksam. Dann hebt er ein abgebrochenes Stück vom Boden auf. Ein blassgrünes Tarnmuster ist auf der einen, eine weißbraune Noppenstruktur auf der anderen Seite zu sehen. Das Material bröckelt. „Ein deutsches Zelt“, murmelt der belgische Archäologe.

100 Jahre lang hat dieses Soldatenzelt im Boden gelegen, direkt neben einer schmalen Straße des belgischen Städtchens Mesen im Bezirk Ypern. Simon Verdegem legt das abgebrochene Stück Plane sorgfältig in sein Auto. Ein Mädchen im pinkfarbenen Pullover geht vorbei, einen pink eingehüllten Hund an der Leine. Die junge Flämin lächelt und wirft keinen Blick auf das, was neben der Straße zu sehen ist: ein freigelegter deutscher Erdbunker aus den ersten Jahren des Ersten Weltkrieges (1914-1918).

Neun Monate haben Verdegem und sein Team hier gearbeitet. Vor dem 100. Jahrestag des Weltkriegsbeginns im August 2014 bot sich ihnen die Gelegenheit, ein gigantisches System aus Schützengräben und Tunneln zu erforschen. Der Zeitpunkt war allerdings Zufall: Der 900-Seelen-Ort Mesen, wallonisch Messines, sollte neue Abwasserleitungen bekommen. Laut Gesetz müssen vor einem Bauvorhaben Archäologen einbezogen werden, sofern im Boden wertvolle Relikte vermutet werden.

Das war im Fall von Mesen keine Frage. Der Name des Städtchens steht für einen jahrelangen Stellungskampf zwischen deutschen und britischen Truppen und eine der größten alliierten Offensiven des gesamten Krieges, die Mesen-Schlacht von 1917. Schnell wurde klar, dass man es mit den besterhaltenen Gräben und Tunneln der Westfront zu tun hatte. Interessant ist für Historiker auch, dass hier der junge Soldat Adolf Hitler kämpfte. Den kleinen Ort mit der markanten Kirche hat er auf mehreren Zeichnungen verewigt.

„Wir hatten allerdings keine deutschen Experten dabei, das hatte Kostengründe“, sagt Simon Verdegem. Der Bauträger der Kanalisation musste die Ausgrabungen finanzieren und wollte die Ausgaben niedrig halten. Interessierte Forscher können sich aber an die belgischen Behörden wenden: Unzählige Fotos, Protokolle und Fundstücke sind archiviert. Ein britisches Fernsehteam dokumentierte die Ausgrabungen, unter dem Titel „Tod in Tunnels und Schächten“ war der Film bei Arte zu sehen.

Mittlerweile ist das Forschungsprojekt abgeschlossen, die neuen Leitungen sind verlegt und die mühsam freigelegten Schützengräben wieder zugeschüttet. Nur rund um den deutschen Erdbunker liegen noch einige Meter Gräben frei. Der Rest ruht unter Maisfeldern und Häusern. Simon Verdegem freut sich trotzdem, Besucher herzuführen. Er ist noch immer tief beeindruckt von dem Ort.

„Dort oben“, sagt er und schaut den Hang eines grünen Hügels hinauf, „lagen die Deutschen. Und dort unten“, er zeigt auf die Talsenke, „die Briten.“ Eine unterschiedliche militärische Philosophie lasse sich erkennen, meint er. „Die Briten wollten keinen Meter zurückweichen, selbst wenn sie die schlechtere Position hatten. Die Deutschen dagegen haben sich schon einmal auf eine bessere Position zurückgezogen.“

Die freigelegten Schützengräben wurden nicht konserviert – schließlich musste die Baufirma ihre Arbeiten zu Ende führen. Für die Experten bedeutete das: Sie konnten die Strukturen zerlegen und besser untersuchen. So entdeckten sie, dass die Deutschen im verzweifelten Kampf gegen den zähen grauen Schlamm Flanderns stellenweise gleich drei Fußböden eingezogen hatten. Sie fanden Tunnel, die mit einem raffinierten Stecksystem aus Holz ausgekleidet waren, „Ikea-Stil“, wie Verdegem sagt. Nägel waren dafür nicht nötig. Dasselbe System findet sich auch im bekannten Kilianstollen im französischen Elsass.

„Das Netz aus Gängen war viel größer und komplexer, als es die alten Karten vermuten ließen“, urteilt der Militärhistoriker Paul Reed, der zum britischen Fernsehteam gehörte. Natürlich fanden die Forscher auch unzählige Bomben und Granaten, die von Sprengstoffexperten gesichert wurden. Und sie stießen auf die sterblichen Überreste eines neuseeländischen Soldaten, wahrscheinlich eines Maori. Er lag in einem Granatenkrater, in Uniform und Stiefeln, aber ohne Waffen und Helm. Er wurde ehrenvoll in Mesen begraben, die Spitze der heutigen neuseeländischen Armee flog eigens dafür ein.

Drei Jahre lang, von 1914 bis 1917, lagen sich hier Deutsche und Briten nahezu bewegungslos gegenüber. Dann allerdings geschah etwas, das sich auf die Situation in Mesen entscheidend auswirken und für das gesamte Kriegsgeschehen Folgen haben würde. Es war der 7. Juni 1917, drei Uhr morgens. Die Deutschen befanden sich in ihren Stellungen. Sie hatten nicht bemerkt, dass die Briten und ihre Mitstreiter in fast 30 Meter Tiefe Tunnel hinüber ins feindliche Gebiet gegraben hatten, durch die sie 400 Tonnen hochexplosives Ammonal geschafft hatten.

19 simultane Explosionen zerfetzten die deutschen Frontlinien, „ein ungeheurer Donner und gelbe Lichtflammen in allen Richtungen“, wie ein britischer Leutnant berichtet. Wahrscheinlich starben mehr als 10.000 deutsche Soldaten innerhalb weniger Sekunden. Der Rest taumelte orientierungslos umher und wurde von mehreren Seiten her attackiert. Innerhalb von drei Stunden hatten die Briten den Frontbogen eingenommen. Die Detonation von Mesen gilt heute als eine der schwersten nicht nuklearen Explosionen aller Zeiten.

Fast 100 Jahre später steht Archäologe Simon Verdegem vor einem 80 Meter breiten und 13 Meter tiefen See, auf dem Seerosen treiben. „Teich des Friedens“ nennen ihn die Bürger von Mesen. Es ist nur einer der Explosionskrater von damals, rund um die Stadt gibt es noch etliche andere. Auch eine nicht explodierte Ammonal-Mine liegt noch im Boden, einer der Bauern von Mesen hat genau über ihr seine Felder und sein Haus. „Er hat keine Angst, denke ich“, erzählt Verdegem. „Er hat sich an sie gewöhnt. Er lebt damit.“