Fachgesellschaft rät von Eingriff an Halsadern dringend ab. Wie aktuelle Studien zeigen, gibt es für die Wirksamkeit der Behandlung offenbar keine wissenschaftliche Grundlage.

Hamburg. Für Menschen, die an Multipler Sklerose leiden, bedeutet jede neue Therapie auch eine neue Hoffnung, Hoffnung darauf, dass es endlich eine Methode gibt, die diese mysteriöse Krankheit besiegt. Und so sorgte auch eine Behandlungsmethode, die den Blutfluss der Halsvenen verbessert, in den vergangenen Jahren für großes Aufsehen. Doch wie aktuelle Studien zeigen, gibt es für die Wirksamkeit der Behandlung offenbar keine wissenschaftliche Grundlage. Deswegen rät die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) dringend davon ab, eine Erweiterung der Halsvenen außerhalb von Studien durchzuführen, da kein Effekt auf den Verlauf der Erkrankung zu erkennen ist. Im März dieses Jahres hatte sie sogar ein Verbot dieses Verfahrens außerhalb von Studien gefordert.

„Hinter dieser Therapie steht die Theorie, dass die Multiple Sklerose darauf beruht, dass das Blut über die Venen nicht richtig abfließt und es dadurch zu einem Rückstau kommt, der im Gehirn Entzündungsreaktionen auslöst“, erklärt Prof. Christoph Heesen, Leiter der MS-Sprechstunde in der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Eppendorf.

Der italienische Gefäßchirurg Paolo Zamboni, der diese These bereits 2006 veröffentlichte, ging davon aus, dass dies der entscheidende Mechanismus der Erkrankung ist. Wenn man ihn behandle, bekomme man damit die Erkrankung in den Griff. „Diese einfache These wird einer so komplizierten Erkrankung wie der MS nicht gerecht. So lässt sich damit zum Beispiel nicht erklären, warum auch Entzündungsherde im Rückenmark entstehen, oder warum es chronische und schubförmige Verläufe gibt. Hinzu kommt, dass die Veränderungen, die wir bei der MS im Gehirn sehen, nicht denen entsprechen, die wir von Erkrankungen kennen, die durch Verschlüsse von Venen entstehen“, sagt Heesen.

Die neue Studie aus Kanada, die in der Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht wurde, untersuchte die Halsvenen von 79 MS-Patienten, 55 nicht erkrankten Geschwistern und 43 gesunden Versuchspersonen mit dem Ultraschall und der Katheter-Venografie, einer Darstellung der Venen mithilfe von Kontrastmitteln. Die Studie unter der Leitung von Dr. Anthony Traboulsee von der University of British Columbia in Vancouver kommt zu dem Schluss, dass dieser Blutstau in den Halsvenen selten ist und nicht häufiger vorkommt als bei Personen ohne MS. Die Wissenschaftler fanden mit der Katheter-Venografie die von Zamboni festgestellten Merkmale für eine MS-relevante venöse Stauung gleichermaßen bei zwei Prozent der MS-Patienten und ihren nicht erkrankten Geschwistern sowie bei drei Prozent der Gesunden. Eine solche Stauung ist demnach bei MS-Kranken genauso häufig wie bei Gesunden.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Auswertung der bisherigen Studien, die kürzlich in der Zeitschrift „Aktuelle Neurologie“ veröffentlicht wurde. Darin kommt das deutsche Autorenteam zu dem Schluss, dass auch die in Deutschland durchgeführten Studien keine Hinweise auf eine venöse Ursache der Multiplen Sklerose geben würden und die internationale Datenlage sehr uneinheitlich sei. „Die Ergebnisse unterstützen nachhaltig die Empfehlung, dass Verfahren zur Erweiterung der venösen Halsgefäße nicht mehr außerhalb von klinischen Studien durchgeführt werden sollten“, so die Wissenschaftler.

„In Fachkreisen sorgte Zambonis These in der Anfangsphase für so viel Verunsicherung, dass einige Zentren in Studien ihre Patienten auf Stauungen der Halsvenen untersucht haben“, berichtet Heesen. Anfangs seien einige MS-Experten noch der Meinung gewesen, dies könnte zumindest ein Teilaspekt der Erkrankung sein. „Mittlerweile muss man allerdings sagen, dass schon die Grundannahme einer venösen Stauung bei der MS nicht bestätigt werden konnte“, sagt der Neurologe.

Er meint, dass die hohe Variabilität des Druckes in den Venen zu diesen Interpretationen geführt habe. „Dieser Druck hängt sehr stark davon ab, wie viel man getrunken hat oder ob jemand bei der Messung liegt, sitzt oder steht, und ändert sich von Tag zu Tag. Mittlerweile haben verschiedene Zentren gezeigt: Es gibt bei MS-Patienten keine Auffälligkeiten der Venen. Nachdem das dann klarer wurde, gab es immer mehr Stimmen, die mahnten, dass dieses Verfahren nicht nur nicht hilfreich, sondern möglicherweise auch gefährlich sein könne“, sagt Heesen.

Denn der Eingriff ist alles andere als harmlos: Mithilfe eines Katheters, der in die abführenden Venen des Gehirns eingeführt wird, werden diese erweitert. Unter Umständen wird auch ein Stent (ein kleiner Zylinder aus einem feinen Metallgeflecht) eingesetzt, um das Gefäß offenzuhalten.

„Es ist ein hoch experimentelles Verfahren, von dem man sagen muss: Im besten Fall hat es nicht geschadet. Im schlimmsten Fall kann es zu Thrombosen führen oder dazu, dass die Stents wandern und so bis ins Herz gelangen können. Es hat auch schon Todesfälle gegeben. Es ist also kein risikoloses Verfahren. Und der Nutzen steht in keinem Verhältnis zum Risiko oder zu den Kosten“, sagt der Hamburger Neurologe über die Risiken.

Denn diese Kosten von mehreren Tausend Euro werden nicht von den Krankenkassen übernommen und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Und auch in Deutschland bewerben Ärzte nach Aussage der DGN diese Therapie und bieten sie ihren Patienten als Selbstzahlerleistung an. Bis März dieses Jahres waren weltweit rund 30.000 Patienten mit dieser Methode behandelt worden.

Wie die Multiple Sklerose entsteht, ist bis heute noch nicht eindeutig geklärt: „Wahrscheinlich gibt es eine genetische Veranlagung für Störungen der Regulationsmechanismen des Abwehrsystems, der Regeneration von Nervenzellen und Faktoren, die Nervenzellen schützen. Hinzu kommt dann wahrscheinlich ein auslösendes Ereignis in der Umwelt, wie zum Beispiel eine Virusinfektion oder eine Kombination aus Ernährungs- und Belichtungsfaktoren. Man hat aber in Studien gesehen, dass nur eine genetische Veränderung oder ein Risikofaktor wie das Rauchen allein keinen großen Einfluss haben. Kombiniert man aber bestimmte genetische Muster mit mehreren Lebensstil- oder Umweltfaktoren, kann man eine relevante Erhöhung des Risikos feststellen“, sagt Heesen.

Klar ist auch bis heute noch nicht, ob es sich bei der Multiplen Sklerose um eine Autoimmunerkrankung handelt, bei der das Abwehrsystem körpereigenes Gewebe angreift. „Das eine Lager der Wissenschaftler sagt, dass die Degeneration der Nervenzellen am Anfang steht und die Reaktionen des Immunsystems darauf folgen. Das andere Lager ist der Meinung, dass am Anfang die Fehlsteuerung des Immunsystems steht und die Degeneration der Nervenzellen erst danach stattfindet. Für die These der Autoimmunerkrankung gibt es die meisten wissenschaftlichen Belege, aber sie ist nicht hundertprozentig gesichert“, berichtet der Neurologe.