Wissenschaftler suchen nach neuen Kriterien für eine artgerechte Haltung. Dabei stehen nicht Stall und Hof im Mittelpunkt – sondern die Tiere selbst.

Trenthorst. Man möchte beim Frühstück ja gern ein gutes Gewissen haben. Wenn der Aufdruck auf dem Joghurtbecher oder der Milchflasche eine tiergerechte Haltung verspricht, klingt das beruhigend. Aber was heißt das eigentlich? Verbraucher stellen sich nicht selten glückliche Kühe auf saftigen Weiden und in geräumigen Ställen vor, denen es rundum gut geht. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Denn bei tiergerecht und ökologisch wirtschaftenden Betrieben überprüfen Experten zwar die Haltungsbedingungen, nicht aber das Wohlbefinden der Tiere selbst. „Die Kontrolleure schauen sich also nur den Stall an und nicht seine Bewohner“, sagt Jan Brinkmann vom Thünen-Institut für Ökologischen Landbau im schleswig-holsteinischen Trenthorst. Genau das wollen er und seine Kolleginnen nun aber ändern. Gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen vom Thünen-Institut für Betriebswirtschaft in Braunschweig suchen sie nach neuen Kriterien für eine tiergerechte Milchviehhaltung. Die Kühe selbst sollen künftig verraten, wie es ihnen geht.

„Die Ökoverbände in Deutschland haben daran großes Interesse“, sagt Angela Bergschmidt vom Thünen-Institut für Betriebswirtschaft. Doch auch in die Richtlinien für die Vergabe von EU-Fördergeldern sollen die neuen Erkenntnisse einfließen. Einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern zahlen zum Beispiel Prämien für alle Kühe, die zwischen dem 1.Juni und dem 1.Oktober jeden Tag auf die Weide dürfen. Auch wer einen „besonders tiergerechten“ Stall baut, kann dafür in den meisten Bundesländern einen erhöhten Fördersatz bekommen. Er muss dazu zum Beispiel jeder Kuh mindestens fünf Quadratmeter Raum, eine Liegebox und einen Fressplatz zur Verfügung stellen. „Das sind keine besonders strengen Auflagen“, sagt Bergschmidt. Öko-Kühe genießen da deutlich mehr Komfort. Selbst die besten Vorschriften für Unterbringung und Weidegang garantieren allerdings noch keine rundum zufriedene Herde. Denn auch im komfortabelsten Öko-Stall kann sich ein Tier eine schmerzhafte Euter-Entzündung oder eine andere Krankheit einhandeln. Und schon ist es vorbei mit dem Rinder-Glück. Solche Gesundheitsprobleme sind auch keineswegs selten. So leiden in Deutschland zwischen 30 und 50 Prozent aller Kühe einmal im Jahr unter einer Euter-Entzündung. Ungefähr genauso viele lahmen. Und 30 Prozent bekommen eine „Ketose“ genannte Stoffwechselstörung, die durch Energiemangel entsteht. „Die betroffenen Tiere fühlen sich dann ähnlich unwohl wie wir bei einem Kater“, sagt Jan Brinkmann. Mit all diesen Problemen haben Öko-Kühe genauso häufig zu kämpfen wie ihre konventionell gehaltenen Artgenossinnen. Sie brauchen allerdings weniger Arzneimittel, um gesund zu werden.

„Über die Ursachen solcher sogenannten Produktionskrankheiten weiß man heute viel mehr als noch vor einigen Jahren“, sagt Jan Brinkmann. Und so haben viele Betriebe sowohl die Ställe als auch das Herdenmanagement deutlich verbessert. Klar ist zum Beispiel, dass der Untergrund in den Liegeboxen weich und verformbar sein muss. Sonst wird das Hinlegen, Aufstehen und selbst das Liegen zur Tortur. Immerhin ruhen dabei 650 bis 700 Kilogramm Kuh auf den Gelenken. Da drohen erst Schwellungen bis zu Fußballgröße und dann massive Schäden an den Gelenken. Oft mögen sich die Tiere auf ein zu unbequemes Lager erst gar nicht niederlassen. Doch auch zu viel Stehen ist für Kühe nicht gut, weil es die Gelenke und Klauen belastet. Viele konventionelle Betriebe rüsten ihre Liegeboxen daher inzwischen mit Kunststoff-Matratzen aus, auf denen die Tiere komfortabel liegen können. Bei Biobetrieben ist zum gleichen Zweck eine Stroh-Einstreu vorgeschrieben.

„Trotz aller Verbesserungen in der Haltung sind die Herden in den letzten Jahren aber nicht gesünder geworden“, sagt Jan Brinkmann. Das liegt daran, dass moderne Rassen immer stärker auf Leistung gezüchtet werden und entsprechend anspruchsvoll sind. Sobald irgendetwas in ihrer Umgebung nicht hundertprozentig stimmt, kann das schon zu Gesundheitsproblemen führen. Das ideale Leben einer modernen Hochleistungskuh vergleicht Jan Brinkmann gern mit einem Sonntags-Brunch: Alle sitzen die meiste Zeit gemütlich herum, fühlen sich wohl und sind angenehm satt. Aber weil es so gut schmeckt, stehen sie doch immer mal wieder auf und holen sich noch etwas zu essen. „Jeden Tag das perfekte Kuh-Brunch zu organisieren, ist allerdings ziemlich aufwendig“, erklärt der Experte. „Da geht schon mal was schief.“

Umso interessanter sind Indikatoren, die den Landwirt auf mögliche Schwachstellen in seiner Haltung hinweisen. Vielleicht lassen sich Gesundheit und Wohlbefinden der Herde ja durch verändertes Futter oder mehr Hygiene, eine bessere Klauenpflege oder sonstige Management-Maßnahmen deutlich verbessern. „Umgekehrt kann man Landwirte auch mit Prämien belohnen, wenn die Indikatoren auf besonders gesunde und zufriedene Tiere hinweisen“, sagt Bergschmidt.

Fragt sich nur, an welchen Kriterien man das festmachen soll. Wissenschaftler kennen inzwischen einen beinahe unüberschaubar großen Katalog von Indizien für mangelndes Wohlbefinden und Gesundheitsprobleme. Im Rahmen eines großen EU-Projektes namens „WelfareQuality“ haben die beteiligten Forscher zum Beispiel ausführliche Handbücher für die Rinder-, Schweine- und Geflügelhaltung entwickelt. Die darin aufgeführten Kriterien gelten derzeit als Gold-Standard für die Beurteilung tiergerechter Haltungen.

„Bis man das alles erfasst hat, ist man allerdings locker acht Stunden im Betrieb beschäftigt“, sagt Angela Bergschmidt vom Thünen-Institut für Betriebswirtschaft. Das aber könne kein Ökoverband leisten und auch für die Kontrollen im Rahmen der Förderprogramme sei der Aufwand zu groß. Sie und ihre Kollegen sind deshalb dabei, einen griffigeren Katalog zu entwickeln. Die darin enthaltenen Indikatoren sollen nicht nur aussagekräftig sein, sondern auch praktikabel für den Landwirt und die Kontrolle.

Da bieten sich Informationen an, die im Betrieb ohnehin schon erhoben werden – zum Beispiel im Rahmen der monatlichen Milchleistungsprüfung. Bei dieser freiwilligen Qualitätskontrolle können die Betriebe jedes Tier vom Landeskontrollverband überprüfen lassen. Erfasst werden dabei neben der Menge auch bestimmte Inhaltsstoffe der Milch. Und einige dieser Größen lassen Rückschlüsse auf das Wohlbefinden der Tiere zu. Enthält die Milch zum Beispiel sehr viele Körperzellen, die vom Euter der Tiere abgestoßen wurden, ist das ein Hinweis auf eine äußerlich eventuell gar nicht erkennbare Euter-Entzündung.

Neben den Eigenschaften der Milch haben die Forscher noch einige weitere Größen in ihren Kriterienkatalog des Kuh-Wohlbefindens aufgenommen. Zum Beispiel den Prozentsatz der Herdenmitglieder, die lahmen oder Gelenkschäden haben, die verletzt sind oder gegen Euter-Entzündung behandelt werden mussten. Nun sind die Forscher dabei, den Katalog in etwa 150 Rinderbetrieben auf seine Praxistauglichkeit zu testen. Kann ein Kontrolleur ihn tatsächlich wie geplant in weniger als vier Stunden abarbeiten? Wie kommen die Landwirte damit zurecht? Diese Fragen wollen die Forscher im Laufe des Winters beantworten. Glückliche Kühe zu erkennen, ist nicht so einfach.