19 Österreicher haben einen gemeinsamen Vorfahren mit der Eismumie, ebenso Menschen auf Korsika. Als „Zufallsbefund“ beschreibt der Studienleiter Walther Parson diese erstaunliche Entdeckung.

Innsbruck. Als er starb, ging sein Wirken erst so richtig los. Dank ihm wissen wir heute, was unsere Vorfahren gegessen haben, welche Krankheiten sie plagten und was für Werkzeuge ihnen zur Verfügung standen. Nun hat Ötzi, die 5300 Jahre alte Mumie aus dem Eis, wieder einmal Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Forscher vom Institut für Gerichtliche Medizin an der Medizinischen Universität in Innsbruck haben lebende Verwandte des Neusteinzeitmenschen gefunden. 19 Österreicher haben ein paar entscheidende Gensegmente mit Ötzi gemein – und damit einen gemeinsamen Vorfahren mit der Mumie.

Als „Zufallsbefund“ beschreibt der Studienleiter Walther Parson diese erstaunliche Entdeckung. „Wir sind vorrangig an der Besiedlungsgeschichte der Alpen interessiert und unterhalten dazu ein interdisziplinäres Projekt mit Historikern und Kollegen der Namensforschung“, sagt der Gerichtsmediziner. „Tirol Studie“ nennt sich das gemeinsame Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und des Tiroler Wissenschaftsfonds (TWF). Dabei wurde das Blut von mehr als 3700 Blutspendern untersucht, die sich freiwillig an dem Tiroler Forschungsprojekt beteiligt haben.

Die Wissenschaftler haben sich das Genom der Blutspender vorgeknöpft – oder vielmehr: das Y-Chromosom. Bekanntermaßen tragen nur Männer dieses Geschlechtschromosom in ihrem Erbgut. Seine Besonderheit liegt darin, dass es nahezu unverändert an die nächste Generation weitergegeben wird. Vater und Sohn tragen so ein nahezu identisches Y-Chromosom. Entsprechend sind hierin auch Informationen verschlüsselt, deren Ursprung noch sehr viel weiter zurückreicht – sogar bis in die Neusteinzeit.

Besonders interessant sind für Erbgutforscher sogenannte Single Nukleotide Polymorphisms (SNPs) und Short Tandem Repeats (STRs). Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Arten von Kennzeichen im Erbgut (DNA-Marker): STRs sind Wiederholungen spezifischer Erbgutabschnitte. Während die jeweilige Sequenz selbst gleich bleibt, kann die Anzahl der Wiederholungen von Generation zu Generation unterschiedlich groß sein. Die Abschnitte werden deshalb auch in der Forensik genutzt. Bestimmt man mehrere unterschiedliche STRs auf einmal, vergleicht sie bei Tatverdächtigen und Tatortprobe und stellt dabei eine komplette Übereinstimmung fest, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Verdächtige der Täter ist.

Bei SNPs geht es dagegen nicht um die Anzahl von Wiederholungen, sondern um einzelne Nukleotide – die Bausteine der DNA. Diese Marker sind wesentlich beständiger als die STRs und werden oft über viele Generationen hinweg unverändert weitergegeben. Zusammengefasst werden diese in sogenannten Haplogruppen. Menschen einer dieser Haplogruppen teilen sich einen gemeinsamen Vorfahren. „Über die geografische Verteilung der Haplogruppen können wir die Besiedlungsgeschichte des Menschen studieren und mit Befunden anderer Wissenschaftszweige diskutieren“, erläutert Parson. Und über die Haplogruppen kann man auch analysieren, wie viele Menschen sich einen gemeinsamen Vorfahren mit Ötzi teilen. Die Eismumie gehört zu einer ganz bestimmten Unterkategorie der Haplogruppe G, die G-L91 heißt. Noch immer gibt es Menschen, die diese Variante in ihrem Erbgut tragen – auch unter den 3700 Blutspendern.

„In unserem Datensatz fanden sich 19 Proben, deren Träger ebenfalls L91 angehören“, sagt Parson, „damit sind sie mit Ötzi weitläufig verwandt – nämlich in der Form, dass sie einen gemeinsamen Vorfahren teilen.“ Viel höher dürften die Anteile auch nicht in umliegenden Regionen ausfallen. Denn Ötzis Haplountergruppe sei in Europa sehr selten, wie es in der zugehörigen Untersuchung aus dem Fachmagazin „Forensic Science International: Genetics“ heißt.

Doch das Erbgut der Eismumie taugt noch zu weiteren Verwandtschaftsanalysen. So hat ein Forscherteam um den Bozener Wissenschaftler Albert Zink auch viele seiner persönlichen Eigenschaften daraus entschlüsseln können. Erst im letzten Jahr stellte sich heraus, dass die Eismumie eigentlich Südländer war: Ötzis DNA ist eng mit derer der Einwohner von Sardinien und Korsika verwandt. Die Untersuchungen zeigten aber ebenso, dass der Urzeitmensch in der Alpenregion geboren und auch dort geblieben ist. Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass sich Ötzi und die Inselbewohner einen gemeinsamen Vorfahren teilen.

Verwandtschaftsbeziehungen sind allerdings längst nicht alles, was die Eismumie uns verrät. In einer Ausgabe des Fachjournals „Nature Communiations“ aus dem vergangenen Jahr beschreibt das Forscherteam, mit welchen Krankheiten sich der Mensch zu Lebzeiten herumplagen musste. Infektionen mit Peitschenwürmern und Fußpilz machten Ötzi zu schaffen, aber richtig gefährlich war für ihn vor allem die Infektion mit Borrelia burgdorferi – dem Erreger der Lyme-Borreliose, der noch heute durch Zecken übertragen werden kann. Unbehandelt kann diese Infektion erhebliche Konsequenzen für das Herz-Kreislauf-System haben, wie aktuelle Studien zeigen. Scheinbar war das auch bei Ötzi der Fall: Die Wissenschaftler fanden starke Verkalkungen in seinem Gefäßsystem, die wohl früher oder später zu seinem Tod geführt hätten.

Letztlich starb der Mann aus der Kupferzeit dann an etwas noch Unerwartetem: Ihn traf kein Herzinfarkt, sondern ein Pfeil. Das konnten Forscher im Juli 2001 bestätigen – knapp zehn Jahre nach dem Fund der Eismumie. Röntgenbilder von Ötzis Brustkorb offenbarten eine Pfeilspitze, die sich in seine linke Schulter eingegraben hatte. Hier hatte die Spitze scheinbar ein großes Blutgefäß des Oberarmes getroffen und ein wichtiges Nervenbündel geschädigt.

Heute geht man deshalb davon aus, dass Ötzi verblutet ist, möglicherweise mit gelähmtem Arm. Ausgedehnte Verletzungen am restlichen Körper und ein Schädel-Hirn-Trauma deuten auf einen Kampf auf Leben und Tod hin, bei dem Ötzi der Verlierer war. Der Mann vom Hauslabjoch starb im Schnee, wurde später von noch mehr Schnee zugedeckt und anschließend im Eis konserviert. Jahrtausendelang blieb er verborgen, bis er 1991 zufällig entdeckt und als wissenschaftliche Sensation erkannt wurde. Seither hat die Neugier der Wissenschaftler Ötzi zu einem zweiten und sehr bedeutsamen Leben verholfen.