In Deutschland sind 800.000 Heranwachsende stark übergewichtig. Über die Behandlung diskutierten Experten auf dem Weltkongress der Kinderchirurgen in Berlin

Berlin. Hunderte Kinder und Jugendliche in Deutschland sind so dick geworden, dass Chirurgen in einer Magenverkleinerung die einzige Chance für mehr Lebensqualität sehen. „Wir reden hier von 15-Jährigen, die deutlich über 100 Kilogramm wiegen“, sagte Philipp Szavay, Chefarzt am Luzerner Kantonsspital und Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie am Montag auf dem Weltkongress der Kinderchirurgen in Berlin. „Wenn Ernährungsumstellung und Sport keinen Erfolg zeigen, wiegen sie mit 20 Jahren 200 Kilo“, ergänzte er. Durch das Gewicht und die Folgeerkrankungen sinke ihre Lebenserwartung erheblich.

In Deutschland gelten heute rund 800.000 Kinder und Jugendliche als stark übergewichtig. Selbst bei strengsten Kriterien für eine Operation würden immer noch Hunderte oder gar Tausende von ihnen für eine Magenverkleinerung oder einen Magenbypass infrage kommen, sagte Szavay. „Das sind erschreckende Zahlen. Aber in diesem jungen Alter können wir die Weichen noch umstellen.“ Fettsüchtige Kinder und Jugendliche litten nicht nur körperlich unter ihrem Gewicht, sondern müssten auch viele Hänseleien ertragen. Oft fehlten auch ein Freundeskreis und später ein Partner und ein Ausbildungs- und Arbeitsplatz. In Deutschland sind bisher schätzungsweise 1000 fettsüchtige Jugendliche am Magen operiert worden.

Für die Zukunft hält Szavay eine deutlich größere Zahl von Adipositas-Zentren für Heranwachsende für nötig – und auch eine Änderung bei der Haltung vieler Krankenkassen. Die Finanzierung sei oft noch nicht selbstverständlich. Die OP solle dabei aber immer in ein Programm aus Vor- und Nachsorge eingebettet sein – mithilfe von Kinder- und Narkoseärzten, Kinderchirurgen, Psychologen, Ernährungsberatern, Physiotherapeuten und Psychiatern. Solche Zentren für Heranwachsende gebe es bereits in Leipzig, Berlin, Essen und Ulm. Bisher werden Adipositas-Operationen vorwiegend bei fettsüchtigen Erwachsenen vorgenommen. Zwischen 2005 und 2012 waren das in Deutschland rund 22.000 Menschen – Tendenz steigend. Die Gesamtkosten für Adipositas-Operationen beliefen sich bei „XXL“-Patienten der AOK 2012 auf 30 Millionen Euro.

Auch wenn die Therapie durch eine Magenoperation nicht unumstritten ist, kann die stark gebremste Nahrungsaufnahme bei Erwachsenen bereits nach einem Jahr Erfolge zeigen. Nach einer norwegischen Studie verschwinden viele Fettsuchtsymptome wie Rücken- und Gelenkschmerzen oder starkes Schwitzen. Viele Patienten fühlten sich nicht nur körperlich, sondern auch mental und emotional besser. Wegzaubern kann die OP bereits erworbene Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Störungen und Diabetes aber nicht. Zuverlässige Daten zur Adipositas-Chirurgie bei Heranwachsenden gibt es in Europa kaum. US-Studien haben aber gezeigt, dass ab einem Body Mass Index (Gewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern) von 35 oder 40 keine andere Therapie mehr Erfolg versprechend ist. Forscher Thomas Inge vom Kinderkrankenhaus in Cincinnati berichtete auf dem Kongress, dass bereits vier bis sechs Prozent aller Heranwachsenden in den USA von Fettsucht betroffen seien – mit steigender Tendenz. Eine Studie mit 637 jungen Patienten habe gezeigt, dass ein Jahr nach einer Magenoperation eine signifikante Gewichtsabnahme erfolgt sei. Eine Garantie sei das aber nicht, schränkt Szavay ein. Ohne Ernährungsumstellung könne der Magen bei Jugendlichen auch wieder wachsen. Eine Magenverkleinerung bleibe ein gravierender Eingriff und könne nicht mehr rückgängig gemacht werden. Neben ethischen und juristischen seien auch einige medizinische Fragen noch unbeantwortet. „Uns fehlen Informationen über Langzeitergebnisse“, berichtet der Kinderchirurg. Denn Adipositas-Chirurgie bei Jugendlichen gibt es erst seit rund zehn Jahren.

Vor 20 Jahren war das bei Kindern in Deutschland noch kein Thema, denn Fettsucht in Massen gab es nicht. Doch mit geändertem Lifestyle wie übergroßen Getränkebechern, zucker- und fettreichem Fast Food und starkem Bewegungsmangel hat sich das Bild gewandelt. „Das sind keine Einzelfälle mehr, sie fallen in jeder Sprechstunde auf“, sagt Szavay. „Zu mir kommen 16-Jährige und sagen, dass sie es allein nicht mehr schaffen.“ Darauf müssten sich Kinderchirurgen einstellen.