Lecks im Tanklager und andere Störfälle. Deutscher Nuklearexperte nennt den Umgang mit der Atomruine chaotisch. Am Sonntag bat Japans Premierminister Shinzo Abe erstmals andere Staaten um Hilfe.

Darmstadt/Hamburg. Die Pannenserie im zerstörten Kernkraftwerk Fukushima reißt nicht ab: Erst am Donnerstag hatte der Betreiber Tepco mitgeteilt, dass aus einem in Schieflage geratenen Tank einige Hundert Liter kontaminiertes Wasser ausgetreten sind. Am Freitag wurde eine Störung in der Filteranlage bekannt, die zumindest das radioaktive Cäsium und einige andere Substanzen aus dem Wasser entfernt. Am Sonntag bat Japans Premierminister Shinzo Abe erstmals andere Staaten um Hilfe. „Mein Land braucht Ihr Wissen und Ihre Expertise“, sagte er in Kyoto. Inzwischen erhebt die japanische Atomaufsichtsbehörde massive Vorwürfe gegen Tepco.

Der deutsche Nuklearexperte Michael Sailer, Geschäftsführer am Öko-Institut und seit 1999 Mitglied der Reaktorsicherheitskommission des Bundesumweltministeriums, spricht von einem „chaotischen Verhalten“ Tepcos. Der Betreiber müsse sich „endlich mit der Situation realistisch auseinandersetzen“.

Doch die Situation ist alles andere als übersichtlich. Seit am 11. März 2011 infolge eines Tsunamis alle vier in Betrieb befindlichen Blöcke des Kraftwerks außer Kontrolle geraten und in drei Blöcken die Reaktorkerne geschmolzen waren, kämpfen die Experten darum, die Anlage zu stabilisieren. Dazu muss das strahlende Material so stark gekühlt werden, dass das umgebende Wasser nicht verdampft. Gut 300 Tonnen (300.000 Liter) Wasser werden täglich in die zerstörten Reaktoren gepumpt. Mindestens genauso viel Wasser dringt über das Grundwasser und durch Regen in die stark strahlenden Bereiche ein – und fließt wieder heraus.

Ein Großteil des kontaminierten Wassers wird aufgefangen und in Tanks mit Fassungsvolumen von mehreren Hunderttausend Litern eingelagert. Etwa 1000 von ihnen stehen auf dem Kraftwerksgelände. Viele wurden eilig mit Schrauben montiert, die einzelnen Stahlbleche wurden mit Kunstharz abgedichtet. Die ersten dieser Behälter werden bereits undicht. Sailer: „Es sind provisorische Tanks. Sie halten nur einige Monate, vielleicht ein paar Jahre. Die Kunststoff- oder Gummiabdichtungen gehen bei starker Strahlung kaputt. Die Tanks sollten aber mindestens zehn Jahre halten. Und dazu müssten sie dauerhaft konstruiert sein.“

Doch selbst bei langlebigen Tanks stößt das Notzwischenlager an seine Grenzen, denn es herrscht allmählich Platzmangel auf dem Gelände. Landeinwärts ist es bergig, auf der anderen Seite liegt das Meer – die Fläche kann also kaum erweitert werden. Und auch das Gelände selbst darf nicht komplett vollgestellt werden, schließlich wird Rangierraum für andere dringende Arbeiten gebraucht.

Um das Tanklager zu entlasten, soll ein verbessertes Filtersystem das kontaminierte Wasser so weit reinigen, dass es ins Meer eingeleitet werden kann. Allerdings ist auch das technisch sehr aufwendig. Sailer: „Wir haben in dem kontaminierten Wasser einen riesigen Zoo von verschiedenen Isotopen. Bei der Filterung braucht man für die verschiedenen Isotope spezifisch wirksame Reinigungsmittel. Eine Substanz kann zum Beispiel Cäsium und chemisch nahe verwandte Isotope entfernen, nicht jedoch Jod, Strontium und viele andere.“

Im normalen Kraftwerksbetrieb würden radioaktives Wasser eingedampft und die festen Rückstände eingelagert, so Sailer. Doch dieser Ansatz komme in Fukushima angesichts der großen Wassermengen nicht infrage. Der Nuklearexperte sieht nur einen Lösungsweg: Die Kraftwerksruinen brauchen wieder geschlossene Kühlwasserkreisläufe, so wie sie in Kernkraftwerken üblich sind. Das heißt: Das geschmolzene Brennmaterial muss eingekapselt und mit einem Ein- und Auslass für Kühlwasserrohre versehen werden.

Auch dies ist eine Herkulesaufgabe: „Man müsste zunächst sicher sein, wo das strahlende Material genau liegt“, sagt Sailer. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass sich im März 2011 in allen drei Reaktorkernen zumindest ein Teil durch den Boden des Reaktordruckbehälters hindurch in den Sicherheitsbehälter geschmolzen hat. Es könnte sich dann bis zu 60 Zentimeter tief in den Beton hineingefressen haben. Ist die genaue Lage ermittelt, müsste in dem stark strahlenden Bereich ferngesteuert ein Gehäuse aus Stahl oder aus armiertem Beton gebaut werden, das den Gefahrenbereich auch zum Boden hin abdichtet.

Dies sei deutlich komplizierter als der Bau des Sarkophags von Tschernobyl, sagt Sailer: „Dort ist während der Katastrophe ein Großteil der Radioaktivität – zum Schaden von Menschen und Umwelt – frei geworden. Dadurch ist in der Ruine so wenig Material übrig geblieben, dass es keiner Kühlung bedurfte. Dagegen werden in Fukushima die zerstörten Reaktorkerne noch viele Jahre weiter gekühlt werden müssen.“ Bei einem geschlossenen System könne man das Wasser zumindest für einen längeren Zeitraum, vielleicht zwei Wochen, im Kreislauf führen. Zudem würde kein Grund- oder Regenwasser in den strahlenden Bereich eindringen, sodass deutlich weniger kontaminiertes Wasser anfiele.

Tepco und die japanische Regierung setzen auf eine andere Lösung: Sie planen eine gut ein Kilometer lange Sperrwand, die den Grundwasserfluss von den Bergen zum Kraftwerksbereich stoppen soll. Die Ingenieure bedienen sich einer Tunnelbautechnik: Sie wollen einen unterirdischen Schutzwall aus gefrorenem Boden errichten, der mittels mit Kühlflüssigkeit gefüllten Rohren auf Minustemperaturen gehalten wird. Sailer ist skeptisch: „Diese Technik ist gut, um Tunnelröhren mit drei, fünf, vielleicht acht MeternDurchmesser trocken zu halten. Bei solchen Ausmaßen ist sicher, dass das Wasser darum herumfließt. Aber hier soll auf breiter Front eine Barriere gebaut werden. Niemand kann heute prognostizieren, ob sie wirklich dicht hält.“

Die wichtigste Aufgabe in Fukushima neben der Wasserwirtschaft: Die vier Brennelementelager in den oberen Gebäudebereichen müssen möglichst bald leer geräumt werden. „Das radioaktive Inventar der gelagerten Brennelemente ist eher größer als das der geschmolzenen Reaktorkerne“, sagt Michael Sailer. Die Bergung der Brennelemente ist die nächste technische Herausforderung: Die Brennstäbe werden in Behälter gepackt werden müssen, die den deutschen Castor-Behältern ähneln. Jeder wiegt 80 bis 100 Tonnen. Hinzu kommt das Gewicht des Krans, der die Brennelemente aus dem Becken hievt. Es sei kaum denkbar, die oberen Bereiche der völlig maroden Gebäude mit solchen Gewichten zu belasten, urteilt Sailer.