Das Sehsystem entwickelt sich etwa bis zur Einschulung – umso wichtiger ist es, Probleme schon in den ersten Lebensjahren zu behandeln. Denn dann gebe es sehr gute Behandlungsmöglichkeiten.

Essen. Etwa 90 Prozent der Sinneseindrücke nimmt der Mensch über seine Augen wahr. Sie unterstützen Kinder bei ihrer Entwicklung. Später kann ein gesundes Sehvermögen sogar über die Berufswahl entscheiden. Umso wichtiger ist es, Sehprobleme schon im Kleinkindalter zu erkennen, damit sie wirksam behandelt werden können.

„Sehen ist ein Gehirnphänomen“, erläutert Yorck Walpuski, Augenarzt in Kiel. „Und es gibt nur ein gewisses Zeitfenster, in dem das Gehirn für das Sehen prägbar ist. Dieses Zeitfenster liegt in den ersten sechs bis sieben Lebensjahren.“ Wird dem Gehirn in dieser Zeit, zum Beispiel aufgrund bestimmter Augenerkrankungen, kein ausreichend scharfer Seheindruck geboten, kann es dem Arzt zufolge das vollwertige Sehen nicht mehr erlernen – auch wenn später eine Behandlung erfolgt. Es drohten bleibende Probleme.

„Etwa fünf Prozent aller Kinder haben Sehschwächen, sogenannte Amblyopien“, sagt Prof. Joachim Esser vom Ressort Schielen im Berufsverband der Augenärzte Deutschlands. In den allermeisten Fällen liegen Probleme bei einem Auge vor. „Diese einseitigen Sehschwächen sind besonders tückisch“, sagt der leitende Arzt der Sehschule an der Universitätsaugenklinik Essen. Denn dabei stünden die Chancen, dass Eltern und Umwelt das entdecken, extrem schlecht. Denn diese Kinder sehen auf einem Auge gut und verhalten sich daher meist normal.

Im Rahmen der gesetzlichen Vorsorgeuntersuchungen wird die Sehfähigkeit von Kleinkindern standardmäßig überprüft. Insbesondere die 2008 neu geschaffene kinderärztliche Vorsorgeuntersuchung U7A, die im Alter von 36 Lebensmonaten erfolgt, ist schwerpunktmäßig auf die Früherkennung von Augenerkrankungen ausgelegt. Ergeben sich dabei Auffälligkeiten, dann überweist der Kinderarzt zum Augenarzt.

Esser und seine Kollegen vom Berufsverband der Augenärzte raten allerdings dazu, jedes Kind im Alter von zwei bis vier Jahren zusätzlich zu den Vorsorgeuntersuchungen einmal bei einem Augenarzt vorzustellen. Es gebe spezielle Verfahren der Früherkennung, die nur er durchführen könne. Die Chancen, dass Sehprobleme frühzeitig erkannt würden, seien dadurch höher. Falle Eltern etwas auf, sollten sie ihre Kinder sofort einem Augenarzt vorstellen. „Mit speziellen altersgerechten Methoden lassen sich Sehschwächen auch schon bei Babys und sehr kleinen Kindern relativ sicher erkennen“, sagt Esser.

Wenn Sehprobleme rechtzeitig entdeckt würden, gebe es sehr gute Behandlungsmöglichkeiten. Bei den beiden mit Abstand häufigsten Formen von Sehfehlern im Kleinkindalter, dem Schielen und sogenannten Brechungsfehlern, wenden Mediziner meist eine einfache Therapie an: Sie kleben ein Auge ab oder verordnen das Tragen einer Brille. „Beim Schielen sieht das eine Auge mit seinem Zentrum ein anderes Objekt als das andere. Um ein Doppeltsehen zu vermeiden, kommt ein Hirnschutzmechanismus zum Tragen“, erklärt Walpuski. „Das Gehirn schaltet ein Auge ab, und zwar in der Regel das Schielauge. Das Kind entwickelt dann nur noch einseitig ein gutes Sehen.“ Klebe man das gesunde Auge im Kleinkindalter ab, stelle sich das Gehirn wieder um und lerne, auch wieder mit dem Schielauge zu sehen.

Liegt ein Brechungsfehler vor, ist das Kind also entweder kurz- oder weitsichtig oder hat es eine Hornhautverkrümmung, kann es auf dem betroffenen Auge nicht scharf sehen. Brechungsfehler müssen mit einer Brille ausgeglichen werden. Damit lässt sich erreichen, dass das Gehirn das Sehen beidseitig optimal lernt und sich keine bleibende Sehschwäche entwickelt.

Eine leichte Weitsichtigkeit gilt bei Kleinkindern als normal. Das Auge kann dies in der Regel selbst ausgleichen. „Bis etwa plus zwei Dioptrien würde man daher noch keine Brille verordnen, sondern erst bei stärkerer Weitsichtigkeit“, erläutert Walpuski. Kinder mit Kurzsichtigkeit, also Dioptrien im Minusbereich, oder mit Hornhautverkrümmung benötigten dagegen immer eine Brille, sagt der Augenarzt. Zudem können auch angeborene organische Augenerkrankungen, etwa ein angeborener Grauer Star, dazu führen, dass der Arzt eine Brille verordnet. Sie sind aber weitaus seltener.

„Wichtig für die Akzeptanz der Brille und den Therapieerfolg ist, dass die Brille dem Kind gefällt und darüber hinaus optimal passt“, sagt der Optiker Friedemann Bruske aus Berlin. 80 Prozent seiner Patienten sind Kinder, drei Prozent sogar Babys. Die meisten Erstverordnungen für Brillen bei Kindern erfolgen ihm zufolge im Alter von zwei bis drei Jahren und in der Vorschulzeit.

Laut dem Kinderoptiker akzeptieren die meisten Jungen und Mädchen ihre Brille schnell. Wenn es bei sehr jungen Kindern anfangs Probleme gebe, könnten mitunter einfache Tricks helfen, sagt Bruske: „Bestimmte Sachen wie Bücher vorlesen oder angucken werden dann eben nur noch mit Brille gemacht. Meist gelingt es so, dass die Kinder die Brille recht schnell akzeptieren.“ Eltern sollten ihre Kinder auch dazu motivieren, die Brille möglichst dauerhaft zu tragen. „Das Sehen muss gelernt werden. Das kann nur funktionieren, wenn man den Seheindruck dauerhaft verbessert“, sagt Bruske.