Fast 2400 Sorten sind in Deutschland bekannt, aber nur wenige finden den Weg ins Ladenregal. Um die genetischen Ressourcen zu retten, werden 940 Sorten systematisch erhalten.

Hamburg/Dresden. Sie heißen Goldparmäne, Knebusch, Ruhm von Kirchwerder oder Gelber Richard – die Sortenvielfalt beim liebsten Obst der Deutschen ist riesig. Doch die meisten Verbraucher greifen immer zu denselben Äpfeln – etwa 20 Sorten haben eine wirtschaftliche Bedeutung. „Viele alte Sorten wurden und werden hauptsächlich auf Hochstammbäumen angebaut. Mit dem Wechsel zum Niedrigstammanbau beim Erwerbsobst ist ein beträchtlicher Teil von ihnen verschwunden“, sagt Dr. Monika Höfer vom Institut für Züchtungsforschung im Julius-Kühn-Institut (JKI). Das Institut mit Sitz in Dresden betreibt die Deutsche Genbank Obst, die unter anderem das Überleben von 940 Apfelsorten in Deutschland sichern will. Ein Teil von ihnen wird bei dem europäischen Apfelfestival Europom zu sehen und zu schmecken sein, das von Freitag bis Sonntag im botanischen Biozentrum der Universität Hamburg in Klein Flottbek zu Gast ist.

Als 2007 die Obstgenbank ins Leben gerufen wurde, konnten sich die Forscher auf eine Vielzahl von staatlichen und privaten Sammlungen stützen. Sie machten zunächst eine Bestandsaufnahme. Diese ergab stolze 2397 Sorten, die in Deutschland wachsen oder zumindest in der Literatur aufgetaucht sind (22 Sorten). Um in die Obhut der Genbank zu gelangen, muss jede Sorte mindestens eines von drei Kriterien erfüllen: Sie muss eine deutsche Sorte sein, einen lokalen, soziokulturellen oder historischen Bezug zu Deutschland haben oder wichtige Merkmale für Forschungs- und Züchtungszwecke vorweisen.

Es ist nicht immer einfach, die einzelnen Sorten voneinander zu unterscheiden. Apfelkundler (Pomologen) bestimmen sie anhand der Früchte. Doch viele Eigenschaften, etwa Farbe und Größe, werden von der Umwelt beeinflusst, in der die Äpfel gewachsen sind. Und teilweise haben gleiche Sorten unterschiedliche Namen. Hier helfen nur genetische Untersuchungen weiter. Diese vergleichen das Erbgut der zu bestimmenden Sorte mit sogenannten genetischen Fingerprints (Fingerabdrücken) von Referenzsorten. Finden sie eine Übereinstimmung, ist der unbekannte Apfel „einsortiert“.

Forscher des JKI und Pomologen aus anderen europäischen Ländern erarbeiten solche Fingerabdrücke für möglichst viele Sorten. Sie arbeiten mit einem einheitlichen Standard in Europa. Für Äpfel wurden zwölf sogenannte Marker (im Erbgut häufig vorkommende DNA-Abschnitte) definiert, anhand derer die einzelnen Sorten auseinanderzuhalten sind. Ziel der deutschen Forscher ist es, für alle 940 Sorten, die es in die Genbank geschafft haben, ein solches genetisches Profil zu erstellen.

Von den Genbank-Sorten sollen an zwei Standorten jeweils mindestens zwei Bäume wachsen. Ein zusätzlicher Reserve-Standort, etwa auf einer Streuobstwiese, wird angestrebt. Insgesamt gilt es also, allein für die Genbank rund 2000 Bäume zu hegen und zu pflegen. Das geschieht nicht nur auf dem Gelände des JKI-Instituts in Dresden-Pillnitz, sondern auch bei einem guten Dutzend Partnereinrichtungen, etwa in Landesanstalten, Obstbau- und Naturschutz-Zentren oder in Privatbetrieben wie der Baumschule Hermann Cordes bei Pinneberg.

Zu den Partnern zählt auch Hans-Joachim Bannier. Er kultiviert auf seinen Streuobstwiesen bei Bielefeld (Obst-Arboretum Olderdissen) rund 350 verschiedene Apfelsorten. Der Vorkämpfer für extensiv bewirtschaftete Streuobstwiesen erhält nicht nur viele alte Sorten, sondern streitet auch für eine andere Ausrichtung der Züchtung. Er warnt vor „genetischer Verarmung und Tendenzen zur Inzucht“. Letztere führt der Pomologe darauf zurück, dass „die überwältigende Mehrheit“ der 500 von ihm untersuchten Sorten Nachfahren von nur sechs „Stammeltern“ seien. Das heißt: Mindestens eine der folgenden Sorten ist in ihren Stammbäumen vertreten: Golden Delicious, Cox Orange, Jonathan, McIntosh, Red Delicious oder James Grieve.

Oftmals sei eine dieser Sorte gleich mehrmals eingekreuzt worden, so Bannier. Besonders häufig traf er auf den Golden Delicious: Der Apfel wurde 347-mal eingekreuzt, insgesamt in 255 Sorten. Die große Präsenz der sechs Sorten habe die genetische Bandbreite in der Apfelzüchtung verengt, kritisiert Bannier: „Die Vielzahl der Sorten in heutigen Züchtungsstationen ist daher keineswegs gleichzusetzen mit dem Vorhandensein genetischer Vielfalt.“

Die sechs „Ahnen des modernen Obstbaus“ seien relativ anfällig, zum Beispiel für Schorfbefall. Doch dieses und andere Probleme werden im modernen Obstbau mit Pflanzenschutz überdeckt, so Bannier. Er wünscht sich ein Umdenken in den Züchtungsinstituten, auch um den Einsatz von Fungiziden (Pilzbekämpfungsmittel) unnötig zu machen: „Die Vitalität von Apfelsorten beziehungsweise Neuzüchtungen sollte nicht nur in Intensivobstplantagen, sondern auch in gänzlich unbehandelten Obstbeständen systematisch beobachtet werden.“

JKI-Forscherin Höfer hält die Kritik für überzogen: „Ein wichtiges Züchtungsziel ist, die genetische Diversität zu erweitern. Aber gleichzeitig wählen wir natürlich Eltern aus, die gut sind.“ Darüber entscheiden vor allem Geschmack, Ertrag und Widerstandsfähigkeit gegen Schaderreger. Höfer: „Wir wollen Sorten schaffen, mit denen künftig bei einem minimalen Aufwand an Pflanzenschutzmitteln hohe Erträge an qualitativ hochwertigen Früchten produziert werden können.“

Die Wiege aller Apfelsorten liegt in der Region nördlich des Kaukasus bis zum Himalaja. Dort wächst der Vorfahre des Kulturapfels, die Wildart Malus sieversii. Die Gebirgshänge oberhalb von Alma Ata, der Hauptstadt Kasachstans, gelten als Gen-Zentrum des Apfels. Die dortigen Wildäpfelwälder bringen Früchte mit vielfältigen Formen, Farben und Geschmack hervor – ein Eldorado an genetischer Vielfalt. Wissenschaftler, auch vom JKI, starteten 2011 und 2012 zwei Sammelexpeditionen in den weiter westlich gelegenen Nordkaukasus. Noch wird das mitgebrachte Material ausgewertet. Später könnte es die Apfelzüchtung womöglich um weitere genetische Varianten bereichern.