Wer älter ist als 75 Jahre, findet selten psychotherapeutische Hilfe. In Hamburg gibt es die bundesweit erste Expertentagung zum Thema

Hamburg. Psychische Erkrankungen sind auch unter alten Menschen weit verbreitet. „Rund ein Viertel der über 70-Jährigen ist eindeutig psychisch krank“, sagt Privatdozent Dr. Reinhard Lindner, Oberarzt für Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie im Albertinen-Haus. Neben Demenzen sind dies besonders Depressionen, Ängste, aber auch Verluste und belastende Konflikte in Partnerschaften und Familien. Doch nur selten werden diese Erkrankungen bei Hochbetagten auch mit einer Psychotherapie behandelt. Um diese Versorgung zu verbessern, treffen sich jetzt erstmals Experten aus dem gesamten Bundesgebiet zu einem zweitägigen Symposium „Psychotherapie in der Geriatrie“, das am heutigen Freitag im Hamburger Albertinen-Haus beginnt.

Bislang werden psychotherapeutische Behandlungsmethoden vor allem bei jüngeren Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesetzt. „Aber es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, dass sowohl psychoanalytische als auch verhaltenstherapeutische Methoden auch bei Menschen wirksam sind, die sehr alt sind“, sagt Lindner. Auch für die Wirksamkeit von Musik-, Kunst- und Bewegungstherapie gebe es wissenschaftliche Hinweise.

Die Psychotherapie bei alten Menschen hat aber auch einige Besonderheiten. „Zum einen ist der Patient älter als der Therapeut, und hat ihm daher ein Stück Lebenserfahrung voraus, zum Beispiel die Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges. Daraus können bei Patienten Zweifel entstehen, vom Therapeuten verstanden zu werden, weil sie denken: Der Therapeut ist so jung, dass er mein Sohn sein könnte“, sagt Lindner. Zum anderen leiden alte Menschen oft unter körperlichen Erkrankungen, die den regelmäßigen Besuch einer ambulanten Psychotherapie erschweren können.

Auch die Themen alter Menschen sind andere als bei Jüngeren. Geht es bei den jüngeren Menschen häufig darum, den Weg aus einer Lebenskrise zu finden und den Mut zu einem Neuanfang zu finden, steht bei den alten Menschen mehr der Erhalt der Lebensmöglichkeiten, das Leben im Hier und Jetzt im Vordergrund. „Da kann es auch darum gehen, dass sie ihren Frieden finden, dem Sterben weniger verzweifelt entgegensehen“, sagt Lindner. Auch an den Psychotherapeuten stellt diese Patientengruppe andere Anforderungen. „Er sollte keine Angst vor den körperlichen Erkrankungen seiner Patienten haben und darauf achten, das er nicht seine eigenen Gefühle gegenüber seinen Eltern in der Therapie mit ins Spiel bringt“ , sagt Lindner.

Bei Menschen im Alter zwischen 60 und 75 Jahren nehme aber die Bereitschaft, eine Psychotherapie zu machen, deutlich zu, weil sich in dieser Altersgruppe die Erkenntnis, durch eine solche Behandlung Hilfe zu bekommen, immer mehr durchsetze.

Doch nach wie vor gibt es besonders bei sehr alten Menschen Vorbehalte gegen eine Psychotherapie: „Ein häufiger Grund ist Scham und die Angst, etwas auszuplaudern, was nur in der Familie besprochen wird. Außerdem haben viele Angst, der Psychiater könnte ihnen schaden. Das basiert auf den negativen Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Psychiatrie viele Menschenleben zerstört hat“, sagt der Psychiater.

Der Zugang der sehr alten Menschen zur Psychotherapie ist aber weiterhin schlecht. „Wer älter ist als 75 Jahre und körperlich krank und dazu psychische Probleme hat, findet kaum psychotherapeutische Hilfe“, sagt Lindner. Das zeigt eine Untersuchung des Albertinen-Hauses bei Patienten mit einem Durchschnittsalter von 85 Jahren, die von der Robert Bosch Stiftung unterstützt wurde. Über zwölf Monate wurden bei 14,3 Prozent aller Patienten einer geriatrischen Station psychosomatische Störungen diagnostiziert und behandelt. Von diesen 76 Patienten litt die Hälfte unter psychosomatischen und reaktiven Störungen, die mit ihrer körperlichen Erkrankung zusammenhängen, ein weiteres Viertel unter Depressionen und Ängsten. „Beide sind vordringlich mit Psychotherapie zu behandeln“, sagt der Psychiater. Bei 33 dieser Patienten wurde eine weitere Psychotherapie empfohlen, bei 45 eine medikamentöse Behandlung. Aber nur neun dieser Patienten wurden in stationäre oder ambulante Psychotherapie übernommen.

Auf dem Symposium wollen die Experten darüber diskutieren, wie die psychotherapeutische Versorgung dieser Patienten verbessert werden kann. Das Ziel ist, einen kontinuierlichen Austausch zu erreichen und neue Forschungsprojekte auf den Weg zu bringen, in denen weiter untersucht wird, welche Therapien helfen und wie sie genau wirken.