Bei der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis handelt es sich um eine Hirnerkrankung, die die Übertragung von Reizen im Gehirn verhindert. Denken, Fühlen, Erinnern – all das gerät dadurch mutmaßlich in Unordnung.

Hamburg/New York. Werde ich zu einem Monster? Fragen dieser Art stellt sich die junge US-Journalistin Susannah Cahalan, als sie an sich erschreckende Veränderungen feststellt. Es beginnt mit dem wahnhaften Durchsuchen der Wohnung ihres Freundes. Sie denkt, dass er sie betrügt. Nach Stunden des Wühlens ist sie fassungslos über ihre plötzliche Besessenheit. In der Redaktion der „New York Post“ vermasselt sie Aufträge und Interviews. Sie kann sich nicht konzentrieren. Ein taubes Gefühl auf einer Körperseite, Schlafstörungen, Gefühlsschwankungen, sie beschimpft ihre Familie – Susannah Cahalan erkennt sich nicht wieder. Als epileptische Anfälle hinzukommen, ist klar: Eine ernsthafte Krankheit liegt vor – doch welche? Es wird einige Wochen dauern, bis Ärzte die Diagnose stellen: Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Dabei handelt es sich um eine Hirnerkrankung durch Antikörper, die die Übertragung von Reizen im Gehirn verhindern. Das Denken, Fühlen, Erinnern – all das gerät dadurch mutmaßlich in Unordnung. Auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sind solche Fälle bekannt.

Susannah Cahalan schrieb ihre Erlebnisse in einem Buch nieder. „Feuer im Kopf – Meine Zeit des Wahnsinns“ ist nun in Deutschland erschienen (mvg Verlag, 17,99 €). Die Journalistin rekonstruiert Geschehnisse, an die sie keine Erinnerung mehr hat, anhand von Gesprächen und Videoaufnahmen. Mit Befremden sieht sie sich mit schlenkernden Armen und Elektroden auf dem Kopf, die ihre Hirnströme messen. Pfeiffersches Drüsen-Fieber, manisch-depressive Episoden, Multiple Sklerose, Alkoholentzug, Nebenwirkungen von Verhütungshormonen oder ein Hirntumor: Die Ärzte arbeiten eine lange Liste mit Verdachtsdiagnosen ab, bis einer die Verbindung zu dem Mediziner Josep Dalmau in Philadelphia herstellt. Eine Kombination aus Blutwäsche sowie Immunglobulinen und Kortison per Infusion lässt Cahalan nach vielen Wochen genesen.

Erst einige Jahre vor Cahalans Erkrankung war Dalmau diesen rätselhaften Beschwerden auf die Spur gekommen. Dem Professor für Neurologie waren an der Universität von Pennsylvania einige Frauen aufgefallen, die alle einen gutartigen Eierstocktumor hatten (Ovarialteratom) und Symptome entwickelten, die denen von Cahalan ähnelten. Er untersuchte Blut und Hirnwasser (Liquor) der Frauen und machte damit Tests an Gehirnen von Nagetieren. Der Forscher fand Antikörper, die an Nervengeflechte im Hirn andockten – und stellte die Vermutung auf, dass diese für die Reaktionen verantwortlich sind. Später stieß Dalmaus Team auf Antikörper, die Bindungsstellen für den Botenstoff Glutamat behindern. Deren Name lautet in der Fachsprache „NMDA-Rezeptoren“. Bei den Patientinnen hatte sich das eigene Immunsystem diese Stoffe offenbar als feindliches Ziel ausgesucht.

Am Hamburger UKE sind in den vergangenen Jahren einige Patienten mit der Hirnerkrankung diagnostiziert worden. „Seit 2007 werden es etwa zehn Fälle gewesen sein“, sagt der Neurologe Frank Leypoldt. Eine Patientin war demnach eine junge Frau, die einen „religiösen Wahn“ entwickelte hatte. Dieser habe sich mit einer Kortison-Behandlung gebessert, doch ein Jahr später erlitt sie einen Rückfall. „Als wir die Arbeiten von Dalmau lasen, ließen wir Blut und Liquor auf die NMDAR-Antikörper untersuchen und wurden fündig“, erzählt Leypoldt, der derzeit in Dalmaus Labor in Barcelona forscht. Der Katalane ging vor einigen Jahren aus den USA zurück in seine Heimat. Bislang hat sein Team weltweit etwa 630 Patienten gezählt, die an dieser speziellen Hirnentzündung litten. Es dürften jedoch mehr sein, denn nicht alle Patienten werden Dalmau „gemeldet“. Etwa 20 Prozent davon sind Männer, nicht alle Patientinnen haben einen Eierstocktumor, unter den Erkrankten sind viele Kinder und junge Erwachsene. Die Krankheit verläuft in Stadien, sie kann Bewusstlosigkeit auslösen und unbehandelt durch eine Atemlähmung tödlich verlaufen. Dies sei jedoch eher selten, sagt Leypoldt.

Wie kommt es aber zu der Attacke auf die Andockstellen im Gehirn? Können sich die Wissenschaftler sicher sein, dass die Antikörper wirklich die Symptome auslösen, also Verursacher der Beschwerden sind?

Bei den Frauen mit den Eierstocktumoren erkläre man sich das so, „dass die Abwehr des Körpers den Tumor zunächst sinnvoller Weise bekämpft, das Immunsystem dann aber beginnt, auch andere Strukturen anzugreifen“, erklärt Leypoldt. Solche Symptome seien auch bei anderen Krebsarten bekannt. Ärzte gehen daher bei Patienten mit dem Mix aus psychischen und neurologischen Beschwerden auf Tumorsuche. Bei manchen Patienten fänden sich zwar die NMDA-Rezeptor-Antikörper, aber sonst keinerlei Hinweise auf den Auslöser, etwa einen Tumor. Weil etwa 70 Prozent der Patienten durch eine Phase gehe, die an eine Grippe erinnert, kam die Hypothese auf, dass Krankheitserreger eine Rolle spielen könnten. In Tierexperimenten sei inzwischen deutlich geworden, dass die Antikörper hochwahrscheinlich die Symptome auslösen. „Aber 100-prozentige Sicherheit gibt es noch nicht“, sagt Leypoldt. Doch auch Vergleiche mit bestimmten Substanzen, die ebenfalls die NMDA-Rezeptoren beeinflussen und bei Menschen zu Bewusstlosigkeit oder Psychosen, würden die angenommene Ursachenkette „Antikörper machen typische Beschwerden“ untermauern.

Stück für Stück setzen Forscher weltweit das Mosaik zusammen. Daran beteiligt sind auch weitere Deutsche. Der Neurologie-Professor Hans-Christian Hansen vom Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster etwa erinnerte sich an eine Patientin aus dem Jahr 1995. Die Frau war mit 25 Jahren an einer Hirnentzündung erkrankt und lag auf der Intensivstation am UKE.

„Das ist ein Fall, den ich wohl nie vergessen werde. Es sah so hoffnungslos aus, dass wir uns entscheiden mussten, ob und wie wir ihr überhaupt noch helfen können“, erzählt Hansen. Die Patientin wurde beatmet und künstlich ernährt, lag im Koma und erholte sich langsam. Im Jahr 2011 entnahmen die Ärzte der Patientin noch einmal Blut und Liquor und ließen auch alte Proben dieser Körperflüssigkeiten in Lübeck und Barcelona untersuchen. „Es zeigte sich, dass NMDA-Rezeptor-Antikörper in allen Proben vorhanden waren, auch in den aktuellen.“ Dies sei überraschend gewesen, denn die Frau habe keine Symptome mehr gehabt. „Darüber diskutieren wir nun immer noch. Die Spekulation ist, dass Antikörper alleine nicht krank machen, sondern es noch andere Voraussetzungen braucht, damit die Krankheit ausbricht“, sagt Hansen, der über den Fall im Fachjournal „Archives of Neurology“ berichtete.

Zentrale Fragen bei neu entdeckten Krankheiten lauten immer: Welche Diagnose haben die Patienten zuvor erhalten? Wo sind sie gelandet? Oder handelt es sich wirklich um etwas Neues? „Ich denke, die Krankheit gab es schon vorher“, sagt der Epilepsie-Experte Prof. Christian Bien vom Krankenhaus Mara in Bielefeld. „Das sieht man auch an dem Beispiel von Hansen aus Neumünster oder an ähnlichen Daten aus Japan.“ Bien hatte (damals noch in Bonn) die Tests von Dalmau nachgestellt. Heute diagnostiziert er bundesweit Fälle. Zwischen November 2011 und Februar 2013 habe er die Krankheit durch Laboruntersuchungen bei 20 Patienten bestätigt, sagt Bien. Eine frühe Diagnose sei der Schlüssel zum Erfolg. Dabei gehe es nicht um Stunden, aber doch um Tage oder Wochen.

„Doch die Diagnose Anti-NMDAR-Enzephalitis ist zu Beginn oft nicht naheliegend, das auffällige Verhalten beginnt ja schleichend, am Anfang führen es viele Patienten auf psychische Belastungen zurück“, sagt Bien. „Eine englische Studie zeigt, dass eine Behandlung, die bis zu 40 Tage nach den ersten Symptomen beginnt, eine gute Prognose mit sich bringt.“ Gut die Hälfte der Patienten werde innerhalb von zwei Jahren nach einer Therapie, wie sie Susannah Cahalan in New York erhielt, gesund. Von den Patienten, die innerhalb der ersten vier Wochen nicht auf die Therapie ansprächen, erhole sich letztlich ein Drittel vollständig, wenn man spezielle therapeutische Antikörper oder Chemotherapeutika zur Behandlung einsetze.

Susannah Cahalan hat ihre „Zeit des Wahnsinns“ überlebt. Bei einem Fünftel der Patienten komme es zu Rückfällen, schreibt sie in ihrem Buch. Aber sie schaffe es, mit dieser Angst zu leben.

„Feuer im Kopf“ von Susannah Cahalan ist im mvg Verlag erschienen und kostet 17,99 €