Gifte wie das der Pfeifenblumen hinterlassen verräterische Spuren im Erbgut von Krebszellen. Das könnte neue Ansätze für Prävention und Behandlung bieten.

Mainz. Pflanzenmedizin gilt als sanfte Medizin – oft zu Unrecht, wie Prof. Thomas Efferth weiß. „Die größten Gifte stammen von Pflanzen“, sagt der Leiter des Instituts für Pharmazie und Biochemie der Universität Mainz. Ein gutes Beispiel bieten die Pfeifenblumen, auch Aristolochia genannt. Diese weltweit verbreitete Gattung aus der Familie der Osterluzeigewächse umfasst rund 500 Arten. Viele davon werden seit Jahrhunderten auf verschiedenen Kontinenten als Heilmittel genutzt – auch in der Traditionellen Chinesischen Medizin. Sie sollen etwa Menstruationsbeschwerden lindern, gegen Gicht, Rheuma, Husten oder Darmleiden helfen, das Immunsystem stärken oder das Abnehmen fördern.

Doch die Pflanzen enthalten Aristolochiasäuren. Diese Stoffe können die Nieren extrem schädigen und Krebs verursachen. In China kennen Experten diese Risiken seit langem. „Die chinesische Medizin weiß, wie man mit Aristolochiasäuren umgeht“, sagt Efferth. „Die Giftigkeit ist bekannt und die Stoffe werden nicht breitflächig eingesetzt, sondern gezielt.“

Großes Aufsehen erregten die Heilkräuter in den 1990er-Jahren in Belgien. 1998 versagten dort bei über 100 weitgehend gesunden Frauen nach einem Diätprogramm die Nieren. Der Grund: Die Art Aristolochia fangchi war versehentlich in eine Kräutermixtur geraten – mit fatalen Folgen: Dutzenden Patientinnen wurden vorsorglich Nieren und Harnleiter entfernt, 18 entwickelten Krebserkrankungen im oberen Harntrakt. In die Fachliteratur ging der Vorfall als „Chinese herbal nephropathy“ ein. „Dadurch hat die chinesische Medizin an Reputation verloren“, sagt Efferth.

Eine weitere tragische Folge von Aristolochiasäuren in einem anderen Teil von Europa kam erst im Jahr 2007 ans Licht: Damals zeigten US-Forscher, dass die Pflanzenstoffe die bis dahin rätselhafte Balkan-Nephropathie verursachen. Diese in den 1950er-Jahren erstmals beschriebene Erkrankung, die zu Nierenversagen und Tumoren führt, traf vorwiegend ländliche Bevölkerungen in Kroatien, Bosnien, Serbien, Bulgarien und Rumänien.

Als eindeutige Ursache ermittelten die Forscher um Arthur Grollman von der Stony Brook University damals wiederum Aristolochiasäuren. Samen der im Balkan wachsenden Gewöhnlichen Osterluzei (Aristolochia clematitis), so ihre Erklärung, seien mit Mehl in Brot eingebacken worden und hätten die Menschen schleichend vergiftet.

Wie weit verbreitet Aristolochiasäuren mancherorts sind, zeigt eine Studie aus Taiwan: Dort bekam zwischen 1997 und 2003 etwa ein Drittel der Bevölkerung Heilmittel, die solche heiklen Stoffe enthielten. Die Insel hat weltweit die höchste Rate von Uruthelkarzinomen des oberen Harntrakts (UTUC). Dazu zählen Tumore an Niere, Blase und Harnleiter – also genau jene Organe, wo sich die Stoffe anreichern. Angesichts dieser verheerenden Bilanz sind Aristolochiasäuren in Europa und Nordamerika schon lange verboten, in Asien seit 2003.

Nun könnte gerade ihre extreme Giftigkeit Forschern wertvolle Hinweise zu Entstehung und Prävention von Krebs liefern. Denn die Giftstoffe hinterlassen im Krebsgenom verräterische Spuren. Das berichteten zwei internationale Forscherteams aus den USA, Singapur, Taiwan und auch China kürzlich im Fachjournal „Science Translational Medicine“.

„Die Schäden kommen dadurch zustande, dass die Stoffe Verbindungen mit den Basen der DNA eingehen“, erläutert Efferth. Diese sogenannten Addukte werden gewöhnlich von der Reparaturmaschine der Zellen als Fehler erkannt, aber nicht immer. Dann bleibt der Schaden liegen – der erste Schritt in einer komplexen Reaktionskette, an deren Ende ein Karzinom stehen kann.

Aristolochiasäuren verursachen eine besonders hohe Mutationsrate

Wie die Forschergruppen berichten, verursachen Aristolochiasäuren im Genom die enorme Rate von 150 Mutationen pro Million Basenpaaren. Zum Vergleich: In durch UV-Licht verursachten Melanomen liegt die Rate bei 111 Mutationen, in Tabak-bedingten Lungentumoren bei acht. „Im Vergleich zu anderen Karzinogenen verursachen Aristolochiasäuren die höchste Mutationsrate“, betont die Gruppe vom National Cancer Centre in Singapur.

Die Mutationen haben ein typisches Muster: In 72 Prozent der Fälle sind in bestimmten DNA-Sequenzen Adenin (A) und Thymin (T) – zwei der vier Grundbausteine – miteinander vertauscht. „Es kommt nicht allein auf die Zahl der Mutationen an, sondern auch darauf, wo sie liegen“, sagt Efferth. Auch hier fanden die Forscher charakteristische Orte: Aristolochiasäuren hinterlassen ihre Spuren oft an sogenannten Splice-Sites – jenen Regionen im Genom, an denen ein Gen endet. Sind diese Grenzbereiche verändert, kann das Gen falsch abgelesen werden, und die Zelle bildet fehlerhafte Eiweiße.

Verhängnisvoll sind auch die von Mutationen betroffenen Gene selbst. Dass die Pflanzenstoffe das bekannte Tumorsuppressor-Gen p53, das vor Krebs schützt, verändern, war bereits bekannt. Doch die Forscherteams listen noch ein gutes Dutzend weiterer gängiger Ziele auf. Auffällig viele davon, wie das am stärksten betroffene Gen KDM6A, sind an der Bildung von Chromatin beteiligt. Diese Proteinhülle schützt die DNA etwa vor Giftstoffen und beeinflusst, welche Gene gerade abgelesen werden und welche nicht.

Ein Lungenkrebs stellte sich so als nicht vom Rauchen verursacht heraus

„Die Charakterisierung dieser Signaturen beleuchtet nicht nur den molekularen Mechanismus der Krebsentstehung, sondern bietet auch ein Werkzeug, die Beteiligung eines krebserregenden Stoffes an Tumoren zu entdecken, zu denen vorher keine Verbindung bekannt war“, so die Forscher.

Die andere Arbeitsgruppe vom Johns Hopkins Kimmel Cancer Centre in Baltimore (US-Staat Maryland) fand das verräterische Muster bei einem Lungenkrebs-Patienten, dessen Tumor bis dahin als Folge des Rauchens galt. Der Patient musste mit Aristolochiasäuren in Kontakt gekommen sein. „Diese Technologie liefert uns die erkennbare Mutationssignatur, sodass wir mit Gewissheit sagen können, dass ein bestimmter Giftstoff für einen bestimmten Tumor verantwortlich ist“, sagt Studienleiter Kenneth Kinzler.

Wie eindeutig der Fingerabdruck tatsächlich die Ursache eines Tumors verrate, müssten noch andere Studien zeigen.