Jedes Jahr aufs Neue: Millionen Zugvögel ziehen aus und über Deutschland in den Süden. Gerade sammeln sich die jungen Weißstörche

Hamburg. Die Sommerurlauber sind allmählich aus südlichen Gefilden heimgekehrt. Nun machen sich die Fernreisenden der Vogelwelt auf den Weg, um der in unseren Breiten vorherrschenden winterlichen Nahrungsarmut zu entgehen. Mauersegler und Kuckucke waren die ersten, sie starteten bereits Ende Juli in den Süden. Jetzt folgen ihnen die Störche, zunächst der Nachwuchs dieses Jahres und später die Altvögel. Bis in den November hinein herrscht reger Flugverkehr am Himmel, zumal auch skandinavische und osteuropäische Brutvögel den Weg über Norddeutschland wählen – mit einem Höhepunkt: dem Kranichzug an goldenen Oktobertagen.

Die schrillen Rufe der Mauersegler, die an lauen Sommerabenden in der Stadt zu hören waren, sind verstummt. Die gut schwalbengroßen Vögel leben in der Luft, jagen pfeilschnell Insekten hinterher, die sie ihrem Nachwuchs in die Schnäbel stopfen. Ist dieser flügge, lässt er sich von seinem hoch in einem Mauerspalt gelegenen Nistplatz fallen und beginnt seinen lebenslangen Nonstop-Flug. Da Mauersegler ohnehin ständig in der Luft sind, können die Kleinen schon nach wenigen Tagen die Fernreise ins südliche Afrika antreten.

„Die Mauersegler haben einen furchtbar weiten Weg. Deshalb machen sie sich schon relativ früh auf“, sagt Peer Cyriacks, Naturschutzreferent der Deutschen Wildtier Stiftung in Hamburg. „Sie fliegen sowohl nachts als auch tagsüber, bei gutem Wetter in großen Höhen von bis zu 3000 Metern.“ Beim Wiederfang von beringten Vögeln zeigte sich, dass Mauersegler in der Lage sind, in vier Tagen rund 1300 Kilometer zurückzulegen.

Auch die Kuckucke sind bereits unterwegs. Sie haben kein Brutgeschäft zu absolvieren. Nach der Paarung und der Eiablage in fremde Nester könnten die Vögel eigentlich gleich wieder ins tropische Afrika zurückkehren, wo sie überwintern. Aber sie lassen sich Zeit, stärken sich im hiesigen Sommer noch für den Rückflug und machen sich dann Ende Juli auf den Weg. Cyriacks: „Ich habe gerade Satellitendaten eines mit einem Sender ausgestatteten Kuckucks gesehen. Danach hatte der Vogel bereits Anfang August die nordafrikanische Küste erreicht.“

Ende Juli erwacht auch der Zugtrieb der Bekassine. Der Schnepfenvogel brütet auf feuchten Wiesen und leidet stark unter den Veränderungen in der Agrarlandschaft, allen voran unter den boomenden Maisfeldern für die Biogas-Erzeugung. Derzeit finden sich die Bekassinen in den Mündungsbereichen von Elbe und Weser zusammen. Die ersten sind bereits abgeflogen, weitere werden in diesen Tagen folgen.

Das Reiseziel der Bekassinen ist Westeuropa, zum Teil auch Afrika. Während die Vögel die Brutzeit als einzelne Paare verbrachten, finden sie sich nun zu größeren Trupps von einigen Dutzend Tieren zusammen, um gemeinsam abzufliegen – „das schützt sie vor den Attacken des Falken. Für ihn ist es schwierig, einzelne Tiere in der Gruppe anzuvisieren“, erklärt Cyriacks. Noch perfekter zelebrieren Starenschwärme diese Verteidigungsstrategie: Sie reisen in Schwärmen von mehreren Tausend Tieren. Die 20 Zentimeter großen Vögel lassen sich mit dem Abflug gen Süden aber noch etwas Zeit.

Gruppenreisen zur Verwirrung von Fressfeinden machen auch Schwalben, die ebenfalls in diesem Monat losziehen. Als Insektenfresser bevorzugen sie im Winter die afrikanische Savanne. Sie fliegen mit Geschwindigkeiten von 70 bis 80 Kilometern pro Stunde und gehören damit zu den schnelleren Rückkehrern. Von Seglern und Schnepfen werden sie jedoch noch überflügelt (etwa 90 km/h).

In diesen Tagen, bei warmer Witterung, brechen die jungen Weißstörche ins südliche Afrika auf. Mitte August starten die Jungvögel, Ende des Monats folgen die erwachsenen Tiere. Vom Stadtgebiet gibt es erfreulich viele Abflüge. Gerade meldete der Naturschutzbund ein Rekordjahr bei den Hamburger Weißstörchen: 23 Paare zogen in den Vier- und Marschlanden sowie im Bereich Harburg 50 Junge groß.

Um Energie zu sparen, nutzen die großen Vögel Aufwinde und legen dann möglichst viel Strecke segelnd zurück. Günstige Thermiken bilden sich nur über größeren Landflächen. Deshalb meiden die Vögel auf ihrem Weg nach Afrika große Wasserflächen. Das Mittelmeer umfliegen sie entweder westlich über Gibraltar oder östlich über den Bosporus zwischen Europa und Asien.

Fast 75 Prozent der deutschen Weißstörche wählen die östliche Route. In den zwei bis vier Zugmonaten legen sie im Durchschnitt 150 bis 300 Kilometer pro Tag zurück. In dieser Zeit sammeln sie sich an Rastplätzen zu immer größer werdenden Gruppen. Cyriacks: „In Israel oder bei Istanbul am Bosporus sind zum Zughöhepunkt Zehntausende Störche zu beobachten – ein beeindruckendes Schauspiel.“

Mitte August tritt auch Deutschlands kleinster Adler, der Schreiadler, seine Reise gen Süden an. Er ist mit rund 100 Brutpaaren hierzulande eine der seltensten Vogelarten und vom Aussterben bedroht. Schreiadler brüten ausschließlich in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Um die Art zu retten, erprobt die Deutsche Wildtier Stiftung seit 2010 in fünf ausgewählten Brutgebieten in Mecklenburg-Vorpommern, wie eine adlergerechte Land- und Waldwirtschaft aussehen müsste. Den Schreiadlern folgen wenige Wochen später die Fischadler. Ihnen könnten im Winter die Gewässer zufrieren, an denen sie derzeit noch Fische jagen.

Im September brechen die letzten Langstreckenzieher auf, aber ebenso Lerche und Kiebitz, die nur ins westliche Europa fliegen. Auch die reinen Insektenfresser finden nun nicht mehr genug Nahrung, etwa die unscheinbaren Rohrsänger. Sie gehen sehr häufig der Beringungsstation des Naturschutzbundes in der Reit (Vier- und Marschlande) ins Netz. „Die Teich- und Sumpfrohrsänger, die wir jetzt fangen, sind noch Brutvögel aus der Gegend“, sagt Julia Bayer, die derzeit auf der Station arbeitet. „Ende August werden die skandinavischen Rohrsänger durchziehen, das merken wir an den erhöhten Fangzahlen. Dann werden auch unsere Brutvögel abfliegen.“

Da für den Herbstzug generell mehr Zeit bleibt als im Frühjahr (dann herrscht Konkurrenz um die besten Brutplätze), legen viele Arten auf ihrem Weg nach Süden an geeigneten Rastplätzen auch mehrtägige Pausen ein. An den Rastplätzen tanken sie neue Energie für den Weiterflug. Bei einigen Arten reicht auch noch die Mauser in die Zugzeit hinein. Deshalb sind im Herbst die Flugzeiten schwieriger zu terminieren als im Frühjahr. Natürlich spielt auch die jeweilige Witterung eine Rolle. „Bei schlechtem Wetter gibt es einen Zugstau an der Grenze des Schlechtwettergebietes, dort fliegen die Vögel nicht hinein“, sagt Peer Cyriacks.

Manche Vögel sind ausgesprochene Schönwetterflieger. Zu ihnen gehören die Kraniche. An goldenen Oktobertagen spielt sich am Himmel über Hamburg ein sehenswertes Schauspiel ab: In Trupps von meist einigen Dutzend Vögeln ziehen die Kraniche in Richtung Südeuropa. Ihr Hauptziel ist die Extremadura, eine spanische Region an der Grenze zu Portugal. Die dortigen lichten Korkeichenwälder bieten den Vögeln einen reich gedeckten Tisch.

Die Überflieger sind leicht an ihrer V-Formation zu erkennen. Die Kraniche nehmen sie ein, um auf ihrem kräftezehrenden Flug möglichst den Windschatten eines Artgenossen zu nutzen. Mit trompetenden Rufen machen die Transitreisenden auf sich aufmerksam. „Es sind Soziallaute zur Koordination der Vögel während des Fluges“, sagt Peer Cyriacks.

Der Zugweg der Kraniche führt direkt über Norddeutschland. Hier liegen ihre wichtigsten Rast- und Sammelplätze: in der Rügen-Bock-Region am vorpommerschen Bodden, an der unteren Oder, an der Mecklenburgischen Seenplatte, in der Havelregion und seit einigen Jahren auch in der Oberlausitz. Zehntausende Kraniche aus Skandinavien und Osteuropa treffen auf die hiesigen Brutpaare, die sich den Artgenossen anschließen. Zum Höhepunkt des Herbstzugs, meist in der ersten Oktoberhälfte, können allein in der Boddenlandschaft bis zu 70.000 der 1,15 Meter großen Vögel rasten.

Während der Frühjahrszug mit dem Beginn der Brutzeit endet, tröpfelt im Herbst der eine oder andere Nachzügler noch im November/Dezember hinterher. So ziehen Gänse oft erst los, wenn das Nahrungsangebot auf den Wiesen zu knapp wird. Für die skandinavische Verwandtschaft ist die Region Hamburg sogar ein willkommenes Überwinterungsgebiet. Vor allem Blässgänse (Graugans-Typ mit weißer Stirnfärbung) bevölkern dann die Elbmarsch. Es ist wie bei den Menschen: In der Reisezeit wird es stiller in der Stadt, weil viele nach Süden reisen. Aber es bleibt immer noch genügend Leben übrig.