Vor 70 Jahren tobte in Hamburg der Feuersturm. Im Alter werden bei vielen Menschen durch schwere Erkrankungen schreckliche Erinnerungen wach.

Hamburg. Der Zweite Weltkrieg ist für Berta Schmidt* auch heute noch gegenwärtig. Immer wieder wird sie in ihren Träumen von den schrecklichen Erlebnissen heimgesucht. Im Jahr 1943 verlor sie durch die Bombennächten ihre gesamte Familie. So wie Berta Schmidt geht es vielen Menschen, die als Kinder und Jugendliche den Hamburger Feuersturm miterlebten, in dem 35.000 Menschen getötet und 125.000 verletzt wurden. „Wir sehen immer wieder, dass schreckliche Erinnerungen wieder geweckt werden, wenn die Menschen im Alter durch viele Erkrankungen geschwächt sind. Wie sie diese Kriegserlebnisse bewältigen, hängt aber auch davon ab, wie gut die Beziehungen zu ihren Eltern waren“, sagt Privatdozent Dr. Reinhard Lindner. Der Experte für Psychosomatik arbeitet im Zentrum für Geriatrie im Albertinen-Haus in Schnelsen.

Hier begegnete er auch Berta Schmidt, die wegen eines starken Zitterns ins Krankenhaus eingeliefert worden war, das sich bei Aufregung deutlich verstärkte. Ihm erzählt sie von ihren Angstträumen, die sie auch jetzt im Alter von 83 Jahren nicht loslassen, und auch davon, wie es 1943 war. Die damals 13-Jährige überlebte nur, weil sie zu der Zeit bei einer Tante in Dresden zu Besuch war. Als sie von dort zurückkehrte, war sie in Hamburg plötzlich ganz auf sich alleine gestellt, es gab keine Familie und kein Zuhause mehr. In einem Altbau in Winterhude bekam sie eine kleine Kammer und fand eine Arbeit als Aushilfe in einem Schuhgeschäft. Dort konnte sie dann eine Ausbildung als Verkäuferin beginnen. Wenige Jahre später lernte sie ihren Mann kennen, der gerade aus dem Krieg zurückgekehrt und genauso allein war wie sie. Zusammen bekamen sie sechs Kinder. Aber ihr Leben stand unter keinem guten Stern. „Sie hatten immer zu wenig Geld. Es gab Eheprobleme, die schließlich mit der Scheidung endeten. Zwei der Kinder sind heute psychisch krank“, erzählt Dr. Lindner.

Wie Menschen solche schrecklichen Erlebnisse verarbeiten, hängt auch davon ab, welche Erfahrungen sie in ihrer frühen Kindheit gemacht haben. „Diejenigen, die in einem Elternhaus groß geworden sind, in dem keine gute Bindung an Vater und Mutter vorhanden war, haben es bei den Verlusten durch den Feuersturm wesentlich schwerer gehabt als diejenigen, die eine stabile Bindung zumindest an die Mutter hatten. Wenn die Mutter das Kind nicht beschützen kann, weil sie selbst unter der Gewalt des Erlebten zusammenbricht, dann ist so ein Trauma etwas ganz anderes, als wenn da jemand ist, der einen beschützt und einem das Gefühl vermittelt: Wir stehen das durch“, sagt der Psychiater.

Dieses Glück hatte Erna Meier*. Auch sie musste schwere Erlebnisse verkraften. Mit fünf Jahren wurde sie in einer der Altonaer Bombennächte verschüttet und erst einen Tag später befreit. „Sie hat Erinnerungen an das Gefühl von damals, an die Angst nicht gefunden zu werden, die Bedrohung dadurch, dass sie sich nicht bewegen konnte“, sagt Lindner. Erna Meier verlor in den letzten Tagen des Krieges ihren Vater. Aber sie hatte eine resolute Mutter, die sie beschützte. „Und das hat wesentlich dazu beigetragen, dass sie sich ein gutes Leben aufbauen konnte“, sagt Lindner.

Der Psychiater hört den Patienten zu und fasst das Grauen für sie in Worte

Doch jetzt im Alter wird auch bei Erna Meier der Schrecken von damals wieder lebendig. In die Klinik kam sie mit einer schweren Lungenentzündung, die von starken Hustenattacken und Erstickungsängsten begleitet war. „Sie hat eine körperliche Krankheit gehabt, mit ähnlichen Symptomen, wie sie sie in der Verschüttungssituation erlebt hat“, sagt Lindner.

Unsere Krankheiten erleben wir als Menschen mit unserer persönlichen Geschichte. Entsprechend werden bei Menschen mit Verlusterfahrungen und anderen schwer beängstigenden Erfahrungen aus dem Feuersturm Erinnerungen wieder zum Problem, die jahrzehntelang „gebändigt“ schienen. „Aber wenn der Körper zusammenzubrechen beginnt, kommen die Erinnerungen wieder hoch“, sagt Lindner. Vor allem die Gefühle, die mit diesen Erinnerungen verbunden seien: Die ganze Angst, die Hilflosigkeit und die Verzweiflung seien plötzlich wieder da.

In solchen Situationen kann Lindner den Patienten helfen, indem er ihnen zuhört, ihre Gefühle anerkennt und das für sie unaussprechliche Grauen in Worte fasst. „Mit der Sprache lassen sich Gefühle strukturieren und kanalisieren. Sie lassen sich konkretisieren und es wird möglich, ihnen einen bestimmten Platz einzuräumen“, erklärt der Psychiater. Damit kann er erreichen, dass die Patienten sich wieder beruhigen. „Das kann dazu beitragen, dass der Patient sich hier ein bisschen mehr seiner aktuellen Genesung zuwenden kann“, sagt Lindner.

Das Leiden der Kriegskinder und die Art und Weise, wie sie das Erlebte verarbeiten, hat auch Folgen für ihre Nachkommen, ihre Kinder und Enkel. „Wenn man selbst traumatisiert und emotional ungeschützt war, sind die Möglichkeiten, seinen Kindern eine gute Mutter zu sein, eingeschränkt. Deshalb können Menschen mit solchen Erfahrungen oft mit ihren Kindern nicht liebevoll und beschützend umgehen“, sagt Lindner.

Wichtig ist auch, ob und wie darüber in der Familie gesprochen wird. „Wenn diese Erlebnisse immer verschwiegen werden, kann das Kind sich die furchtbarsten Dinge ausmalen. Die Sprachlosigkeit bietet Raum für enorme Fantasien. Wenn ich hingegen etwas bezeichne, ist es konkret und verliert an Bedrohung“, sagt Lindner. Aber genauso falsch wäre es, seine Erlebnisse und Gefühle völlig ungefiltert mitzuteilen, zum Beispiel kleinen Kindern. „Das kann dann dazu führen, dass die Kinder überschwemmt werden von Fantasien von Krieg, Bomben und Tod. Sie sind damit überfordert“, sagt Lindner. Eine richtige Verarbeitung wäre, diese Gefühle in sich tragen zu können, ohne die Kinder damit zu ängstigen und mit ihnen angemessen darüber zu reden, zum Beispiel einem Sechsjährigen zu sagen, es war eine schlimme Zeit, ohne weiter in die Details zu gehen.

* Namen von der Redaktion geändert