Liebespfeile, die auf den Partner abgeschossen werden, und Penisse mit fast der sechsfachen Länge des eigenen Körpers: Manche Weichtiere lassen Forscher in Sachen Fortpflanzung staunen.

Görlitz. Das Vorspiel scheint kein Ende zu nehmen: Ausführliche Streicheleinheiten, minutenlanges Sich-Umschlingen, körperliche Nähe in den unterschiedlichsten Stellungen. Bis es wirklich zur Sache geht, kann es durchaus ein paar Stunden dauern. Die abwechslungsreichen Szenen, die sich im Frühling und Sommer vor ihrer Haustür abspielen, treiben etliche Gärtner allerdings an den Rand des Wutausbruchs. Nicht weil sie etwas gegen Vorspiele hätten. Sondern weil das Ganze letztlich zu einer weiteren Generation gefräßiger Gegner führt, die über Blumen und Gemüse herfallen. Die meisten Schnecken können sich in günstigen Jahren wie diesem kräftig vermehren – ein Ziel, das sie manchmal auf bizarren Wegen erreichen. Ihr komplexes Paarungsverhalten stellt Biologen noch immer vor interessante Rätsel.

Heike Reise und ihre Kollegen vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz interessieren sich zum Beispiel für landlebende Nacktschnecken. Jedes Jahr fangen sie vor allem Ackerschnecken der Gattung Deroceras ein, die selbst für Schneckenverhältnisse ein reichlich exzentrisches Sexualleben führen. Im Görlitzer Labor hocken die Tiere erst einmal ein paar Tage alleine in ihren Behältern. „Nach etwa einer Woche sind sie bereit, sich zu paaren“, sagt die Biologin. Und dann sind die Forscher mit der Kamera live dabei. Sie setzen jeweils zwei Tiere zusammen und nehmen sämtliche sexuellen Handlungen aus verschiedenen Perspektiven auf Video auf – stilecht bei Rotlicht. „Das können die Schnecken nicht sehen, sodass sie nicht gestört werden“, erläutert Heike Reise.

Ohne solche Aufnahmen lässt sich das Paarungsspiel der Weichtiere kaum untersuchen. Denn obwohl Schnecken sonst nicht für ihre Geschwindigkeit bekannt sind, legen sie in Sachen Sex mitunter ein rasantes Tempo an den Tag. Das Vorgeplänkel mag sich über Stunden hinziehen, doch der eigentliche Akt lässt sich bei einigen Deroceras-Arten kaum mit bloßem Auge verfolgen: Plötzlich schießt bei beiden Partnern fast explosionsartig der Penis hervor, und es dauert nicht einmal eine Sekunde, bis die Zwitter ihr Sperma ausgetauscht haben. Zu schnell für neugierige Wissenschaftler-Augen. Gut dass man Videoaufnahmen in Zeitlupe abspielen kann. „So können wir das Zusammenspiel der Genitalien genau analysieren“, sagt Heike Reise.

Was genau die Sexfilme aus der Weichtierwelt zeigen, hängt auch stark von den jeweiligen Darstellern ab. Von den derzeit etwa 100 bekannten Ackerschnecken-Arten scheint jede ihre ganz eigenen Vorlieben entwickelt zu haben. Mal dauert das Vorspiel länger, mal kürzer, mal werden zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte Drüsen ausgestülpt. Mal führen die Tiere ihre Geschlechtsorgane unter dem Körper zusammen, mal über den Köpfen. „Diese Verhaltensweisen sind so typisch, dass man die verschiedenen Arten daran unterscheiden kann“, erläutert die Görlitzer Forscherin.

Das ist gerade bei Ackerschnecken interessant, die sich äußerlich nur schwer auseinanderhalten lassen. Zwar gibt es durchaus Unterschiede in Größe und Farbe, doch beides kann auch innerhalb derselben Art stark variieren. Aufschlussreicher ist ein Blick auf den Bau des Penis, der je nach Art mit verschiedenen Anhängseln und Seitentaschen, Drüsen und Falten ausgerüstet ist. Auch diese Unterschiede aber sind nicht immer eindeutig. Und so hilft den Forschern die Analyse des Paarungsverhaltens, um die Verwandtschaftsverhältnisse unter den Ackerschnecken zu entwirren. Heike Reise und ihre Kollegen haben auf diese Art und Weise sogar schon mehrere bislang übersehene Arten entdeckt.

Bei einem dieser Fahndungserfolge geht es um eine inzwischen fast weltweit verbreitete Ackerschnecke, die sich als Schädling in Gemüsekulturen unbeliebt gemacht hat. Wissenschaftler hatten diese kriechenden Kosmopoliten lange für Vertreter der Mittelmeer-Ackerschnecke Deroceras panormitanum gehalten, die ursprünglich aus Süditalien stammt. Zwar gab es schon länger den Verdacht, dass sich hinter diesem Namen mehrere Arten verbergen könnten. Doch so ganz sicher war sich niemand. Bis Heike Reise und ihre Kollegen feststellten, dass sich das Paarungsverhalten von den Süditalienern und den Kosmopoliten massiv unterscheidet. Nun heißt der Schädling Deroceras invadens.

Als Nächstes wollen die Senckenberg-Forscher anhand von genetischen Markern untersuchen, ob die gefräßigen Gemüsevertilger weltweit alle zu dieser neuen Art gehören. Hinter der bekannten Schadschnecke könnten sich schließlich durchaus noch mehrere bisher unentdeckte Arten verbergen. Das aber wäre nicht nur für Systematiker interessant. Heike Reise und ihre Kollegen erhoffen sich von ihrer Arbeit auch Hinweise darauf, wie sich diese Schädlinge ausbreiten, warum sie so erfolgreich sind und wie man sie vielleicht besser bekämpfen kann. Und sie wollen herausfinden, ob die strengen Kontrollen und drastischen Bekämpfungsmaßnahmen sinnvoll sind, mit denen die USA eine weitere Einschleppung der kriechenden Kosmopoliten verhindern wollen. Wenn in Nordamerika schon die gleiche gefräßige Truppe unterwegs ist wie in Europa, kann man sich den teuren Aufwand vielleicht auch sparen.

In erster Linie aber ist es das Staunen über die bizarren Erfindungen der Natur, das viele Schneckenforscher antreibt. Kopfschüttelnd stehen auch Experten vor Phänomenen wie dem Liebesspiel des Tigerschnegels Limax maximus. Diese zehn bis 20 Zentimeter langen Nacktschnecken seilen sich bei der Paarung gemeinsam an einem Schleimfaden ab. Kopfüber hängen die beiden Partner von einem Baum und verdrehen ihre Körper ineinander. Dann stülpen sie ihre schlauchartigen Genitalien aus, winden sie spiralförmig umeinander und übertragen das Sperma von Spitze zu Spitze. Anschließend ist es gar nicht so einfach, sich wieder zu trennen.

Bei anderen Arten kann das zu einer noch größeren Herausforderung werden. Zum Beispiel bei einem größeren Verwandten des Tigerschnegels, dem Schwarzen Schnegel Limax cinereoniger. Bis diese Tiere ihre etwa zehn Zentimeter langen Geschlechtsteile wieder auseinandergewickelt haben, kann es schon einmal bis zu 20 Minuten dauern. Da mag man sich gar nicht vorstellen, vor welchen Schwierigkeiten erst ein weiterer Verwandter namens Limax redii steht. Dieser kriechende Bewohner der Südalpen bringt es bei etwa 15 Zentimeter Größe auf bis zu 85 Zentimeter Penislänge. Und trotzdem gelingt es ihm irgendwie, sein Geschlechtsteil nach dem Akt wieder zurückzuziehen.

Bei den nordamerikanischen Bananenschnecken der Gattung Ariolimax klappt das allerdings nicht immer. Manchmal schaffen sie es einfach nicht, ihre Genitalien wieder aus der weiblichen Geschlechtsöffnung zu befreien. Und dann greifen mindestens zwei Arten dieser Weichtiere zu einer drastischen Maßnahme: Sie beißen sich den Penis entweder selbst ab oder lassen ihn vom Partner abknabbern – und führen ihr Leben künftig nicht mehr als Zwitter, sondern als Weibchen weiter. Wissenschaftler haben solche Amputationen allerdings auch schon beobachtet, ohne dass irgendwelche unentwirrbaren Verwicklungen die Tiere dazu gezwungen hätten. Was hinter diesen Verstümmelungen steckt, weiß bisher niemand.

Klar ist jedenfalls, dass auch andere Schneckenarten eine Vorliebe für verletzungsträchtige Sexpraktiken zu haben scheinen. Die bekannte Weinbergschnecke Helix pomatia zum Beispiel rammt ihrem Partner bei der Paarung einen sogenannten Liebespfeil in den Körper. Wissenschaftler haben jahrelang über die Funktion dieser spitzen Kalkwaffen gegrübelt. Inzwischen ist klar, dass die kriechenden Zwitter ihrem Partner damit eine Art Spritze verpassen. Sie injizieren ihm ein hormonähnliches Sekret, das den Spermien den Weg zu den Eiern erleichtert. Die Substanz verengt den Gang zu einem Organ namens Bursa copulatrix, in dem die Schnecken fremdes Sperma verdauen. Statt in diesem körpereigenen Abfallbehälter landet das Sperma des Liebespfeil-Schützen dann in der Samentasche des Partners, in der es bis zur Befruchtung aufbewahrt wird.

Eine ähnliche Funktion könnten auch spezielle Drüsen haben, die im Liebesspiel der Deroceras-Arten eine wichtige Rolle spielen. Wie die Finger einer Hand legen sie sich nach dem eigentlichen Akt auf den Rücken des Partners und übertragen ein Sekret. Zu gern würden Heike Reise und ihre Kollegen herausfinden, was das soll. „Wir vermuten, dass die Ackerschnecken auf diese Weise ihren Partner hormonell manipulieren, um ihre Vaterschaft zu sichern“, sagt die Forscherin. Ein Liebespfeil für Pazifisten sozusagen.