Selbstverliebten fehlt es an grauer Masse im Empathiesektor, haben Forscher mithilfe von MRT-Aufnahmen entdeckt

Berlin. Wer kennt sie nicht: Selbstverliebte Chefs, herzlose Lebenspartner oder Kollegen, die bei der leisesten Kritik an die Decke gehen. Fast inflationär werden sie inzwischen als Narzissten bezeichnet. Einige Kritiker sehen die westlichen Gesellschaften ohnehin schon lange auf dem Weg ins narzisstische Zeitalter. Im streng medizinischen Sinn ist Narzissmus dagegen schwer zu greifen. In einer neuen Studie hat ihn die Berliner Charité im Gehirn verortet. Die These: Narzissmus kann sich in Regionen widerspiegeln, die Empathie steuern.

Die Bilder des Gehirns aus dem Magnetresonanztomografen (MRT) der Charité sind eine vorsichtige Annäherung an ein Phänomen, das bisher vor allem in der Psychotherapie und Psychiatrie eine Rolle spielt. Das Umgehen mit Narzissmus als seelischer Störung, die schon Sigmund Freud beschrieb, ist in diesen Disziplinen bis heute nicht einfach. Eine evidenzbasierte Therapie, die sich in kontrollierten, randomisierten Studien als wirksam und anderen Ansätzen gegenüber als überlegen erwiesen habe, gebe es noch nicht, sagt Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Die Weltgesundheitsorganisation kennt keine narzisstische Störung

Noch nicht einmal bei der Klassifikation herrscht weltweit Einigkeit. Nach dem diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen (DSM), das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird, gibt es eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Als besondere Kennzeichen gelten danach unter anderem übertriebenes Selbstwertgefühl, ständiges Verlangen nach Bewunderung und ein Mangel an Einfühlungsvermögen. Namensgeber ist der Halbgott Narziss aus der griechischen Mythologie, der Verehrerinnen hochmütig abwies und sich zur Strafe in sein Spiegelbild im Wasser verliebte. Narziss ertrank schließlich.

Vor allem in angelsächsischen Ländern gehen Experten davon aus, dass rund ein Prozent der Bevölkerung von krankhaftem Narzissmus betroffen ist. Doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), nach deren Klassifikation sich auch deutsche Ärzte richten, sieht das anders. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung taucht im WHO-Katalog nicht als Einzeldiagnose auf, sondern nur unter dem Sammelbegriff „Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen“. In seinem Buch „Die Narzissmusfalle“ rätselt der österreichische Psychiater und Neurologe Reinhard Haller über den Grund. Er sieht ihn in einem heftigen Fachstreit der Psychowissenschaften. Die eine Gruppe sehe pathologischen Narzissmus als die bedeutendste Persönlichkeitsstörung überhaupt an. Die andere argumentiere, narzisstische Züge seien in der Gesellschaft so weit verbreitet, dass sie zur Norm geworden seien. Einigung scheint nicht in Sicht.

Vielleicht wird auch deshalb beim krankhaften Narzissmus besonders eifrig nach biologischen Erklärungen gesucht. Bisher gebe es keine Daten, die eine neurobiologische Entsprechung von pathologischem Narzissmus belegten, heißt es in der neuen Charité-Studie im „Journal of Psychiatric Research“. Doch die Forschungsgruppe um Stefan Röpke von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie hat im Gehirn etwas Spannendes entdeckt: Einige ganz spezielle Strukturen sehen bei Narzissten messbar anders aus – und viele davon haben mit der Steuerung von Empathie zu tun. In die Untersuchung waren 34 Probanden eingebunden. Die Hälfte von ihnen litt unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung nach US-Definition, die andere bildete eine Kontrollgruppe.

„Bereits in einer Vorstudie konnten wir zeigen, dass Patienten mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ein Defizit im Mitfühlen, also bei der emotionalen Empathie aufweisen“, erläutert Röpke. Als Sitz für Empathie-Bewusstsein im menschlichen Gehirn gelten bestimmte Netzwerke, die ihren Sitz teilweise in der Großhirnrinde haben. Das ist die äußere Schicht des Gehirns, die von Furchen durchzogen ist. Diese Partie ist ein Teil der grauen Hirnsubstanz. Eine Steuerungszentrale für Mitgefühl wird in der Inselrinde im seitlichen Teil des Stirnlappens lokalisiert – ungefähr zwischen Auge und Ohr.

Für ihre Studie scannten die Forscher mithilfe eines MRT die Gehirne der 34 Probanden. Dabei stellten sie fest, dass sie bei Patienten mit narzisstischer Störung eine auffällige Struktur aufwiesen, vor allem in der linken Inselregion: Die Nervenzellschicht war dort messbar dünner. Aber auch an anderen Stellen zeigten sich Unterschiede beim Volumen der grauen Hirnsubstanz: beidseits in der unteren und mittleren Stirnwindung, dazu im rechten vorderen und linken mittleren Cingulum sowie im Prä- und Postzentralen Gyrus. Weiterhin zeigten die Forscher, dass das Ausmaß an Empathie direkt mit der Dicke der Großhirnrinde zusammenhing.

Kann man also künftig ein MRT-Bild des Gehirns zur Diagnose von Narzissmus nutzen? „Nein“, sagt Röpke deutlich. Erst müssten die Gehirnstrukturen noch viel besser verstanden werden. „Es ist auch nicht klar, ob die Großhirnrinde an dieser Stelle immer schon dünner war. Oder ob sich das erst im Laufe des Lebens entwickelt hat.“ Das MRT sei eine Momentaufnahme. Auch für Autor Haller bleibt noch unklar, ob Narzissten die Störung mit auf die Welt bringen – oder ob die Hirnareale durch selbstbezogenes Verhalten von Kindesbeinen an schlicht verkümmern.

Empathiemangel findet sich bei Männern häufiger als bei Frauen

Das Rätsel um pathologischen Narzissmus ist also noch lange nicht gelöst. Und so müssen sich Ärzte weiter auf das stützen, was sie aus Erfahrung wissen. Dazu zählt, dass krankhaftem Narzissmus nach der Theorie der Psychoanalytiker eine Ich-Störung zugrunde liegt. „Als Basis gilt ein Mangel an Selbstwertgefühl, der dann überkompensiert wird“, erläutert Maier. Die Ursachen werden oft in der Kindheit gesucht – bei den Eltern. Sowohl Überbehüten als auch Vernachlässigung gelten als Risikofaktoren. Ohne das konsequente Setzen natürlicher Grenzen könne sich das Ich schwer finden, sagt Maier. Zusätzliche Entwertungen durch die Eltern könnten diesen Effekt noch verstärken. „Kausale Abhängigkeiten hat man aber nicht gefunden. Das ist alles assoziative Forschung, die Verknüpfung von Vorstellungen“, betont er.

Dazu gehört auch, dass die seelische Störung vor allem Männer trifft. „Charakteristika wie die eigene Bedeutsamkeit und Empathiemangel finden sich bei Männern generell häufiger als bei Frauen“, sagt der DPGGN-Präsident. Frauen seien vielleicht schon von Natur aus warmherziger; als Mütter bildeten sie Empathiefähigkeit dann häufig noch einmal deutlicher aus. Es gibt auch Vermutungen, dass Narzissmus eine Erbkomponente hat. In welchem Ausmaß und wodurch genau – bisher Fehlanzeige. Genetische Marker habe man bislang nicht gefunden, schreibt Reinhard Haller. Auf der Hand liege aber, dass Kinder mit narzisstischen Elternteilen am „schlechten Modell“ lernten, sagt Wolfgang Maier. „Wenn Mitgefühl ihnen nicht als Wert vorgelebt wird, kann es auch dadurch zu Entwicklungsdefiziten kommen.“

Und was ist mit der Theorie von der narzisstischen Gesellschaft? Wolfgang Maier grenzt diesen umgangssprachlichen Begriff deutlich vom pathologischen Narzissmus ab. „Aber es gibt viele Berufsgruppen, die narzisstische Neigungen fördern“, sagt er. Eine große Rolle spielten dabei Bewunderung und Applaus – sei es in der Politik, der Kunst oder in Medien wie Film und Fernsehen. „Im Grunde wird narzisstisches Verhalten dort gezüchtet. Das sind am Anfang vielleicht gar keine Charakterdefizite. Aber das System zwingt die Menschen förmlich da hinein – und diese Gewohnheit prägt.“