Die Schülerin erkrankte im vergangenen Jahr an der Essstörung. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Tagebuch festgehalten

Hamburg. „Was passiert mit mir? Was ist nur los? Ich erkenne mich selbst nicht mehr. Die Schuldgefühle, sobald ich etwas esse, nagen an mir. Letzte Woche habe ich doch noch mit Freuden mein Brot gegessen. … Ich habe Hunger, aber ich wage es nicht, etwas zu mir zu nehmen. Die Angst ist zu groß. Ich schaffe es nicht. Ich fühle mich hilflos und allein.“

Gedanken einer 13-Jährigen, aufgeschrieben in Form von Tagebuchaufzeichnungen. Einblicke in die zerrissene Gedankenwelt eines magersüchtigen Mädchens. Die Aufzeichnungen von Fiona K., die heute 14 Jahre alt wird, vermitteln einen Eindruck von dem verhängnisvollen Strudel, in den die erkrankten Mädchen geraten, von ihrer Angst und ihrer Verzweiflung. Das Abendblatt dokumentiert die Zeit eines verzweifelten Kampfes, den Fiona am Ende gewann.

Als die Hamburger Schülerin Ende des vergangenen Jahres ins Krankenhaus kam, wog sie bei einer Größe von 1,71 Metern nicht einmal mehr 44 Kilogramm. Das entspricht einem Body-Mass-Index (BMI) von 14. „Von einer Magersucht sprechen wir dann, wenn der Body-Mass-Index unter 17,5 liegt. Bei Heranwachsenden muss man dabei allerdings noch die Altersperzentilen berücksichtigen, den Vergleich mit dem Durchschnitts-BMI von Mädchen derselben Altersgruppe. Betroffen sind zwischen ein und drei Prozent der Mädchen unter 18, meist im Alter von 14, 15 Jahren“, sagt Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf und am Altonaer Kinderkrankenhaus.

Angefangen hatte es im Oktober 2012. Damals fuhr Fiona mit ihren Großeltern während der Herbstferien in den Urlaub. Zu der Zeit wog sie noch 55 Kilogramm. „Als ich wiederkam, hatte ich etwas abgenommen. Viele haben mir gesagt, wie toll ich aussehe, und das hat mich sehr gefreut. Ich wollte, dass es auch so bleibt, habe dann immer weniger gegessen und irgendwann auch überhaupt keine Kohlenhydrate mehr zu mir genommen“, erzählt Fiona. Ein typischer Speiseplan sah dann so aus: morgens ein Apfel, mittags ein bisschen mageres Fleisch und abends ein gekochtes Ei. Die Folge war eine rapide Gewichtsabnahme. Innerhalb von sechs Wochen nahm Fiona mehr als elf Kilogramm ab. Irgendwann fühlte sie sich dann sehr schwach. „Alles war total anstrengend, und ich war auch nicht mehr fröhlich.“

Ihre Mutter hat Anfang November gemerkt, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Als das Mädchen dann keine Kohlenhydrate mehr aß, rief die Mutter den Kinderarzt an. Es folgten wöchentliche Besuche in seiner Praxis. Jedes Mal wurde Fiona gewogen, und jedes Mal wog sie weniger. „Sie hat das aber nicht ernst genommen“, erzählt die Mutter weiter.

Aus dem Tagebuch:

„… Sobald ich unter 50 Kilo bin, muss ich in die Klinik. Als ich mich letztens, trotz Verbot, allein gewogen habe, zeigten die Zahlen 49,3. Schon wieder ein Kilo in einer Woche weg. Dabei ist morgen schon wieder mein Arzttermin. Wie soll ich denn zu morgen wieder das ganze Kilo zunehmen? Ich hab panische Angst vor der Klinik. Egal wie, ich muss es schaffen, dass die Waage morgen 50 anzeigt. Und Essen kommt da nicht infrage. Mit Wasser kann man sich doch eins, zwei Kilo schwerer schummeln.“ Und ein paar Tage später: „… Mit letzten Kräften schleppe ich mich von Ort zu Ort. Ist es das alles wirklich wert? Ja das ist es. Ich kann nicht anders. Ich muss dünn sein! Ich muss einfach. Sagt eine innere Stimme in mir. Mein Verstand kommt nicht mehr dagegen an. Diese Stimme verführt mich immer wieder, und zieht mich immer mehr hinein.“

Weihnachten habe Fiona dann nur noch schwach und apathisch auf dem Sofa gelegen. „Um sie herum tobte das Leben, aber sie nahm nicht mehr daran teil. Das war gar nicht mehr mein Kind“, erzählt die Mutter.

Aus dem Tagebuch:

„Endlich. Heute ist der 24. Dezember. Eigentlich der schönste Tag des Jahres. Eigentlich. Das Fest der Liebe, Freude und Freundschaft. Ein Albtraum für mich. Wann habe ich das letzte Mal gelacht? Wann war der letzte Tag, an dem ich mich nicht mit meiner Krankheit beschäftigt habe? Das sonst so schöne Fest ist ungenießbar. Noch nicht einmal ein kleines Lächeln durchdringt das versteinerte, mir scheinbar perfekte Gesicht.“

Gleich nach den Weihnachtstagen brachten die besorgten Eltern ihre Tochter ins Krankenhaus. Womit Fiona nicht gerechnet hatte: Sie musste dableiben und bekam acht Wochen Bettruhe verordnet. Sie musste dringend zunehmen, auch ihre Herzfrequenz war schon bedrohlich abgesunken. Ihr Herz funktionierte nicht mehr richtig, schlug nachts nur noch 28-mal pro Minute; normal ist eine Herzfrequenz von 60 bis 80 Schlägen pro Minute. „Am ersten Abend war ich außer mir. Ich wollte auf gar keinen Fall zunehmen. Ich fand mich nicht zu dünn und schön so wie ich war“, erzählt das Mädchen.

Aus dem Tagebuch:

„… Angst bricht in mir aus. Eiskalt sagt die Ärztin, ich müsse hierbleiben. (…) Bitterlich breche ich in Tränen aus. Das wollte ich nicht. Was habe ich mir nur angetan? Warum? Wieso? Diese Fragen bleiben mir an dem Abend unbeantwortet. Ich werde in ein Krankenzimmer gesteckt, muss mich ins Bett legen und werde an einen ständig piependen Monitor verkabelt. Aber wozu das alles?“

Doch dann sagten die Ärzte Fiona, wie ernst ihre Situation sei.

Aus dem Tagebuch:

„… Wie in Trance starre ich die graue Wand an, so lange, bis ein Arzt in mein Zimmer kommt. Seine Worte brennen sich tief in mein Gedächtnis ein: ,Du warst in Lebensgefahr! Ein paar Tage länger und du wärst nicht mehr bei uns.‘ Worte, die ich wahrscheinlich niemals in meinem Leben vergessen werde. Meine Tränen halte ich zurück, bis meine Eltern mein Zimmer betreten. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so sehr geweint wie an diesem Tag.“

Fiona erzählt, dass sie damals Todesangst hatte. Aber an diesem Punkt sei sie zur Vernunft gekommen und habe wieder gegessen.

Aus dem Tagebuch:

„Jetzt sitze ich hier, allein zurückgelassen in meinem Krankenzimmer. Die Tage dauern ewig. Aber am schlimmsten ist es, dass ich meinen Fehlern jetzt direkt ins Auge blicken muss. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ununterbrochen an alles zurückzudenken. Es fühlt sich wie ein Stich mitten ins Herz an, wenn ich an meine eigene Dummheit zurückdenke. Wenn ich daran denke, was aus mir geworden ist, wird mir übel. Eine Träne läuft mir über mein Gesicht, (…) eine Träne der Einsicht. Eine ganz wichtige Träne für mich. Denn in dem Augenblick beschließe ich, etwas gewaltig an mir zu ändern. Was genau das sein wird, weiß ich selbst noch nicht. Ich weiß nur, dass es ein harter Weg wird. Ein harter Weg, wieder richtig gesund zu werden. Aber vor allem ein harter Weg, wieder glücklich zu werden und diese grauenhaften Selbstzweifel ein für allemal abzulegen. Wieder frei zu sein. Denn ich bin toll, so wie ich bin. Das habe ich nun endlich begriffen.“

Im Krankenhaus nimmt Fiona wieder fünf Kilogramm zu und wiegt bei der Entlassung 49 Kilogramm. „Die Gewichtszunahme sollte zwischen 500 und 1500 Gramm pro Woche liegen“, sagt Schulte-Markwort. In der ersten Februar-Woche konnte sie das Krankenhaus verlassen und ging dann auch gleich wieder in die Schule. „Ich hatte noch eine Ernährungsberatung und habe mich relativ gesund ernährt, zuerst aber noch die Kohlenhydrate gemieden.“ Heute wiegt sie wieder 55 Kilogramm und fühlt sich wohl mit ihrem Gewicht.

Nach dem Klinikaufenthalt machte sie noch eine ambulante Psychotherapie einmal in der Woche. Das war in ihrem Fall ausreichend, bei vielen anderen Mädchen, die an Magersucht erkrankt sind, ist allerdings eine stationäre Psychotherapie nötig. „Aber bei Fiona handelte es sich um einen atypischen Fall. Denn magersüchtige Mädchen verleugnen oft die Gefahr, in der sie sich befinden. Fiona war da aber sehr reflektiert“, sagt Schulte-Markwort. „Das Schreiben eines Tagebuchs kann bei der Therapie helfen, weil es eine Form ist, sich von der Erkrankung zu distanzieren“, sagt der Kinderpsychiater. Für Fiona war das Aufschreiben ihrer Gedanken eine Möglichkeit, mit der Krankheit abzuschließen.

Nachdem, was sie selbst erlebt hat, hat sie heute auch einen feineren Blick dafür, wenn andere Mädchen in ihrer Umgebung an einer Essstörung erkrankt sind. „Ich merke es an ihrem Essverhalten, an ihrem Gesichtsausdruck und daran, wie traurig sie sind.“ Für die Zukunft wünscht Fiona sich, dass es nie wieder zu einem Rückfall kommt und dass „es mir weiterhin so gut geht wie jetzt“.