Vor allem Seeadler und Rotmilane prallen gegen die Rotoren. Eine Abstandsregel zu Brutplätzen könnte helfen. Warum die Greifvögel selbst bei klarem Wetter mit den Rotorblättern zusammenstoßen, ist noch unklar.

Hamburg. Die Energiewende in Deutschland braucht weitere Windrotoren: Nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Windenergie (IWES), die das Umweltbundesamt als Auftraggeber Mitte Juni präsentierte, könnte auf bis zu 13,8 Prozent der Landesfläche Windstrom gewonnen werden, „ohne sensible Schutzgebiete erheblich zu beeinträchtigen“. Schleswig-Holstein hat die als geeignet ausgewiesene Fläche kürzlich verdoppelt: 1,7Prozent der Landesfläche steht nun zur Windenergieernte bereit. Nach jahrelangem, erfolgreichen Ringen um einen umweltverträglichen Ausbau der Ökoenergie drohe die Natur nun doch unter die Windräder zu kommen, warnen Naturschützer.

Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) wendete die IWES-Studie zunächst ins Positive: „Sie zeigt, dass in Deutschland ausreichend Fläche für einen natur- und umweltverträglichen Ausbau der Windenergie an Land vorhanden ist“, so Nabu-Präsident Olaf Tschimpke. Er forderte aber auch, die Anwohner frühzeitig in die Projekte einzubeziehen. Auch die Auswirkungen auf Natur und Landschaft müssten künftig stärker berücksichtigt werden. Diese hat der Nabu-Landesverband Schleswig-Holstein bereits vor Augen: Er warnt vor einer erhöhten Kollisionsgefahr für Großvögel wie Seeadler, Störche und Kraniche mit den riesigen Rotorblättern moderner Anlagen.

Nach Angaben der Projektgruppe Seeadlerschutz Schleswig-Holstein sind Kollisionen mit Windrädern inzwischen die häufigste Todesursache. 26 Adler verunglückten zwischen 1997 und 2011 im nördlichsten Bundesland an den Anlagen. Die Adlerschützer ließen insgesamt 105 Totfunde vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung medizinisch und toxikologisch untersuchen. Am zweithäufigsten starben die majestätischen Vögel bei Kollisionen mit Eisenbahnen (15), häufig beim Fressen von getöteten Tieren, die zuvor einem Zug zum Opfer gefallen waren. 14-mal diagnostizierten die Biologen Vergiftungen infolge von Bleimunition (sieben) oder durch Schädlingsbekämpfungsmittel. Zur Einordnung: Im Jahr 2012 brüteten 66Paare in Schleswig-Holstein, davon 47 erfolgreich (81 Jungtiere).

Eine andere Todesstatistik führt die Staatliche Vogelschutzwarte Brandenburg. Sie registriert alle geflügelten Opfer von Windrädern, von denen inzwischen 23.000 in Deutschland rotieren. Die Datenbank enthält 389 verunglückte Vögel (84 Arten) und 342 getötete Fledermäuse (13 Arten). Unter den Vögeln dominieren die Greifvögel mit einem Anteil von 36 Prozent. 62Funde waren tote Rotmilane, dazu 39 Mäusebussarde, 15 Seeadler, zehn Turmfalken und vereinzelte andere Arten.

Warum die Greifvögel, die für ihren scharfen Blick bekannt sind, selbst bei klarem Wetter mit den Rotorblättern zusammenstoßen, ist noch unklar. Die Brandenburger Ornithologen zählen einige Aspekte auf: Die Vögel können die hohe Geschwindigkeit der Rotorspitzen nicht richtig einschätzen, weil sich ein Riesenwindrad im Gesamteindruck eher langsam zu bewegen scheint. Es könnte einen Gewöhnungseffekt geben, der bei starkem Wind (schnellere Rotation, Abdrift des Vogels) das Kollisionsrisiko steigen lässt. Vielleicht locken auch Beutetiere auf der den Mastfuß umgebenden Brachfläche die Vögel an – beim Fokussieren der Nahrung nehmen die Jäger die Rotorblätter nicht wahr.

Seit Jahren treffen sich Windenergievertreter und Naturschützer, um entstandene Probleme zu besprechen. „Niemand möchte, dass Klima- und Naturschutz in Konflikt geraten“, sagt Matthias Hochstätter, Sprecher des Bundesverbandes Windenergie (BWE). Er wünscht sich, dass alle Projektierer von Windkraftanlagen „bei der Planung ihre Hausaufgaben machen und Naturschutzbelange nicht auf die leichte Schulter nehmen“.

Wenn neue Anlagen gebaut oder alte Rotoren durch modernere ersetzen werden sollen, muss der Bauherr unter anderem artenschutzrechtliche Gutachten vorweisen, die das Vorkommen von Brut- und Zugvögeln, Fledermäusen und anderen durch das Projekt potenziell gefährdeten Tieren beschreibt. Mit dieser Vorgabe werde „in der Planungspraxis allerdings nach Beobachtung des Nabu sehr freizügig umgegangen“, kritisiert der schleswig-holsteinische Landesverband. Solche Fälle ärgern auch Hochstätter: „Wenn nur schnell ein Fonds platziert werden soll, ist das fatal. Dann gibt es zurecht Anfeindungen von Naturschützern.“

Jens Heidorn, der in den Vierlanden zwölf Windenergieanlagen betreibt, hat die gegenteilige Erfahrung gemacht. Er muss den im März beim Naturschutzamt der Umweltbehörde eingereichten „Landschaftspflegerischen Begleitplan“ in mehreren Punkten nacharbeiten. „Wir müssen das Vorkommen von Fledermäusen ausführlicher prüfen. Dabei stehen in dem Gebiet schon zwölf Anlagen, sechs von ihnen sollen durch vier modernere ersetzt werden. An einer Stelle wollen wir auf 40 Meter einen trockenen Graben verfüllen. In einer der 123 Einwendungen gegen das Projekt wird nun gefragt, ob dort womöglich die Zierliche Tellerschnecke lebt, die bereits ein in Bergedorf geplanten Logistikpark stoppte. Wir werden das jetzt untersuchen lassen müssen. Insgesamt wird sich unser Projekt wahrscheinlich um ein Jahr verzögern, was einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden verursacht.“

Um im dichter werdenden schleswig-holsteinischen Rotorblätterwald Großvögeln einen ausreichenden Luftraum zu verschaffen, hatte das Kieler Landesamt für Umwelt bereits im Jahr 2008 empfohlen, zu Brutplätzen von Seeadlern und Schwarzstörchen einen Mindestabstand von 3000 Metern einzuhalten; bei anderen Arten (u.a. Rotmilan, Weißstorch, Kranich) sollte es ein Kilometer sein. Bei Projekten, bei denen die Distanz unterschritten wird, müssen mindestens dreijährige Untersuchungen mit mindestens 70 Beobachtungstagen im Jahr sicherstellen, dass die geplanten Windrotoren das betroffene Brutpaar nicht gefährden.

Überschneiden sich Eignungsflächen und Abstandsregeln, so müsse ein Kompromiss gefunden werden, betont auch Hochstätter: „Wir müssen einen Ausgleich schaffen, vielleicht durch die Aufwertung eines Lebensraumes an anderer Stelle. Denkbar ist auch, an der strittigen Stelle statt zehn nur vier Anlagen zu bauen und den Rest an anderer Stelle zu planen. Das erhöht natürlich die Kosten. Doch das sollte es uns wert sein, um den Zwiespalt zwischen Natur- und Klimaschutz zu vermeiden.“