Ein Fossil aus China ist das älteste Zeugnis eines Primaten. Archicebus achilles lebte vor 55 Millionen Jahren in einem tropischen Wald. Das kleine Tier war wohl nur rund 22 Zentimeter groß.

Peking. Bei der Suche nach dem ältesten Vorfahren der Menschen müssen Paläontologen manchmal ganz genau hinsehen. So wie ein Team um Xijun Ni von der Chinese Academy of Sciences und Christopher Beard vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh. Die Forscher hatten vor mehr als fünf Jahren in Jingzhou in der Hubei Provinz in China von einem Bauern ein Fossil erhalten, das er in einem uralten Flussbett gefunden hatte. Es waren winzige fossile Knochen, eingebettet in uraltes Gestein. Dieses Fossil stellte sich als etwas bislang noch nie Gesehenes heraus: Im Fachjournal „Nature“ schreiben die Forscher stolz, dass ihr Fossil das älteste bislang gefundene Primatenskelett ist. Es ist im Grunde so etwas wie der Ururururgroßvater der Menschen.

Das kleine Tier war wohl nur rund 22 Zentimeter groß, 13 Zentimeter davon nahm allein der Schwanz ein. Zudem hatte der kleine Primat offenbar anatomisch relativ moderne Füße. Entsprechend tauften die Paläontologen das Tier auch „Archicebus achilles“, was übersetzt so viel heißt wie „langschwänziger Affe mit Fersenknochen“. Spektakulär an dem Fund sind zwei Dinge: Zum einen ist noch über die Hälfte des Skeletts des Tieres erhalten – Schwanzwirbel, ein Teil der Rückenwirbel, die Hinterextremitäten und der Kopf. Und zum anderen ist das Fossil sehr alt. Archicebus achilles lebte offenbar vor 55Millionen Jahren. Das können die Forscher unter anderem an den Sedimentschichten erkennen, in denen das Tier nach seinem Tod über die Jahrmillionen hinweg eingebettet war: Sie stammen aus dem Eozän. Bisher waren nur einzelne Zähne, aber keine Knochen von Primaten aus einer so frühen Zeit gefunden worden.

Aus dem fossilen Skelett von Archicebus aber können Paläontologen eine Menge herauslesen. So legen die relativ kleinen Augenhöhlen den Schluss nahe, dass Archicebus tagaktiv war. Seine Bein-, Fuß-, und Zehenknochen erlauben es den Forschern auch, über seine Fortbewegung und Ernährungsweise zu spekulieren. „Die Tiere lebten wahrscheinlich in den Bäumen und jagten dort nach Insekten“, erklären sie.

Das Klima im Eozän war heißt, feucht und tropisch. „Das Ökosystem, in dem Archicebus lebte, war wahrscheinlich ein dichter tropischer Wald an einem Fluss oder See. Archicebus war ein kleines Tier, kleiner als die meisten heute lebenden Primaten und in etwa mit den Zwerg-Mausmakis zu vergleichen, die heute in Madagaskar leben und nur 30 bis 50 Gramm wiegen. Die kleinen Tarsiiden, zu denen Archicebus gehörte und zu denen die heute vor allem in Südostasien verbreiteten Koboldmakis zählen, waren wahrscheinlich sehr agile, vielleicht etwas schreckhafte Tiere, die in den Baumwipfeln umherkletterten und -sprangen“, spekuliert Christopher Beard. Die meisten modernen kleinen Säugetiere haben einen enorm hohen Stoffwechsel. Um genügend Energie zu haben, fraßen die kleinen Urprimaten wie ihre heute lebenden Verwandten wahrscheinlich kalorienreiche Insekten.

Im Eozän war es viel wärmer auf der Erde als heute. Die Kontinente waren von subtropischen und tropischen Wäldern bedeckt. Die Dinosaurier waren bereits ausgestorben, viele neue Säugetierarten eroberten die Ökosysteme. Blütenpflanzen hatten sich noch nicht ausgebreitet; die Kontinente waren noch nicht in ihrer heutigen Form auseinander- beziehungsweise zusammengedriftet. Allerdings waren Nordamerika und Eurasien bereits getrennt. Zwischen Asien und Afrika aber gab es noch keine Verbindung, hier erstreckte sich das warme Meer Tethys.

Dass Archicebus ausgerechnet in Asien gefunden wurde, bestätigt die seit Jahren unter Wissenschaftlern akzeptierte These, dass Primaten während des Eozäns genau hier eine Art Blütezeit erlebten. Die klimatischen und ökologischen Bedingungen scheinen optimal für sie gewesen zu sein. Vor 55 Millionen Jahren, als Archicebus durch die Wipfel Asiens hüpfte, gab es auf dem afrikanischen Kontinent noch keine Primaten – zumindest wurden in Afrika bislang keine eindeutigen Primatenfossilien aus dem Eozän gefunden. Das bedeutet, dass die frühen affenähnlichen Tiere irgendwann über das Thetys-Meer aus Asien nach Afrika eingewandert sind. Hier konnten sich dann die Anthropoiden weiterentwickeln – zu Affen, Menschenaffen und Menschen.

Die Koboldmakis (wissenschaftlich Tarsiiden) teilen sich mit den Anthropoiden einen Ast auf dem Stammbaum des Lebens. Sie sind phylogenetisch vergleichsweise eng verwandt, enger als beispielsweise mit den Lemuren, die sich als Gruppe schon zu einem früheren Zeitpunkt zu einem Seitenast entwickelt haben. „Unser Fossil zeigt ein überraschendes Mosaik aus Merkmalen von heute lebenden Anthropoiden und von heute lebenden Tarsiiden“, erklärt Beard. „Wir waren geradezu geschockt, als wir bei diesem Fossil einen Fuß vorfanden, den wir eigentlich nur von den wesentlich jüngeren Anthropoiden kennen.“ Das Fossil hatte also schon früher als gedacht Merkmale, von denen Forscher bislang annahmen, dass sie sich erst später, als auch Tarsiiden und Anthropoiden sich getrennt hatten, entwickelt hätten.

Von einem Missing Link, also dem fehlenden Verbindungstier zwischen den Koboldmakis und den Affen, Menschenaffen und Menschen wollen die Forscher aber nicht reden. „Der Begriff Missing Link stammt aus der viktorianischen Zeit, in der Darwin seine Evolutionstheorie vorstellte“, sagt Christopher Beard. „Die Leute sagten damals zu ihm ‚Wenn der Mensch vom Affen abstammt, dann zeige uns doch mal das Verbindungsglied!‘. Deshalb mag ich den Begriff nicht. Wir haben mittlerweile mit vielen Fossilien solche Verbindungsglieder gefunden und die Evolution bestätigt, aber natürlich gibt es nicht DAS Fossil, das ein perfekter Hybrid zweier phylogenetischer Linie ist.“

Auch wenn sich Beard und seine Kollegen also gegen den Begriff des Missing Link sträuben, ist Archicebus doch etwas Einmaliges: Ein Mosaikstein, der nicht nur den Ursprung der Primaten in Asien bestätigt, sondern auch zeigt, dass die Geschichte der Affen und Menschen offenbar wesentlich länger dauert als bislang angenommen.