Strandgut fasziniert Kinder. Giftiges Mutterkorn an der deutschen Wattenmeerküste. Das ist ungefährlich, solange die Kinder nichts in den Mund stecken.

Hannover/Hamburg. Das Vorkommen von giftigem Mutterkorn an der deutschen Wattenmeerküste und die damit verbundenen Gefahren werden bislang unterschätzt. Das sagt Dr. Jutta Papenbrock, Professorin am Institut für Botanik der Leibniz Universität Hannover. Zusammen mit Kollegen der Tierärztlichen Hochschule Hannover hatten die Botaniker festgestellt, dass eine weit verbreitete Wattenmeerpflanze, das Englische Schlickgras (Spartina anglica), von dem gefährlichen Pilz Claviceps purpurea befallen ist. Er kann in einen Ruhezustand übergehen, in dem er Kälte und Trockenheit widersteht. In dieser Sklerotikum genannten Form wächst er als sogenanntes Mutterkorn anstelle eines Samens in der Grasrispe heran. Diese Sklerotien seien an der gesamten deutschen Nordseeküste zu finden, so Papenbrock.

Derzeit geht die Gefahr nicht von den Gräsern aus, sondern lauert eher im Spülsaum, der Ablagerungskante für Algen, Muscheln und Treibgut am Strand. Denn dort finden sich die schwarz-violetten, schmalen, eineinhalb Zentimeter großen Mutterkörner, die sich im Herbst 2012 am Gras gebildet hatten. Sie fielen ab und wurden mit den Gezeiten an die Strände verdriftet. „Bei einer Stichprobe im Mai haben wir am Leuchtturm Westerhever innerhalb kurzer Zeit eine Handvoll Mutterkörner gefunden“, sagt Papenbrock. Insgesamt haben die Hannoveraner das deutsche Wattenmeer zwischen der niederländischen und der dänischen Grenze alle 50 Kilometer geprobt – und waren überall fündig geworden. „Wie das Schlickgras ist auch das Mutterkorn flächendeckend vorhanden“, sagt die Botanikerin. „Wir haben weder Schwerpunktbereiche mit besonders hoher Dichte noch Gebiete mit relativ geringem Befall gefunden.“

Im Mittelalter starben Menschen an Mutterkorn-Vergiftungen

Bislang sind Mutterkorn-Vergiftungen nur durch verunreinigtes Getreide bekannt. Gerade im Mittelalter kam es durch seine Inhaltsstoffe aus der Gruppe der Alkaloide massenhaft zu Vergiftungen (Antonius- oder Pestfeuer genannt): zu Darmkrämpfen und Halluzinationen bis hin zu tödlichen Atemlähmungen oder Kreislaufversagen. Damals wurde Getreide nicht gereinigt. Heute werden die auffallend größeren Mutterkörner in Brot- wie in Futtergetreide von den Mühlen effektiv ausgesiebt. Die Sklerotien, die im Schlickgras heranwachsen, verteilen sich dagegen an der Küste.

„Mehrere verschluckte Sklerotien können ein Kleinkind töten“, warnt Jutta Papenbrock. Hautkontakt sei dagegen ungefährlich. Die Professorin plädiert dafür, über die Mutterkorn-Problematik offensiv zu informieren: „Die Nationalparkranger sollten die Strandbesucher aufklären, ebenso die Informationszentren. Und auch bei Wattführungen sollte das Thema angesprochen werden.“ Doch obwohl Jens-Peter Kiel, Sprecher der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven, und Nicola Kabel vom Schleswig-Holsteinischen Umweltministeriums in Kiel einräumen, dass das Mutterkorn-Vorkommen bekannt sei, herrschte an der Küste bislang Stillschweigen.

Neben den Touristen, deren Kinder die schwarzen „Körner“ am Meeressaum auflesen und womöglich in den Mund stecken, tragen auch Landwirte ein Risiko. Denn sie lassen ihre Schafe auch im Deichvorland weiden, oftmals auf Salzwiesen und damit nahe zum Meeresübergang, dem Lebensraum des Schlickgrases. Das steht derzeit noch vor der Blüte, die Samen – und parallel die Mutterkörner – bilden sich erst im Spätsommer. Deshalb herrscht akut keine Gefahr für die Schafe. Und auch in der Vergangenheit habe es keine Berichte über Vergiftungserscheinungen oder über erhöhte Fehlgeburtenraten gegeben, so Ministeriumssprecherin Nicola Kabel.

Mit Blick auf die startende Strandsaison versichert sie: „Natürlich werden wir darüber aufklären. Wir prüfen derzeit, welche Maßnahmen zu ergreifen sind.“ Ähnliches gilt für Hamburg. Im Nationalpark rund um die Insel Neuwerk sei Mutterkorn im Schlickgras in den vergangenen Jahren nie ein Thema gewesen, sagt Volker Dumann, Sprecher der Hamburger Umweltbehörde. Aber man sei jetzt mit den Kollegen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein im Gespräch, wie auf die Hannoveraner Befunde zu reagieren sei.

Das Schlickgras selbst macht Probleme, denn es verdrängt andere Pflanzen

Genau darauf hat Jutta Papenbrock gehofft. „Die Nationalparkverwaltungen sollten das Problem ernst nehmen und nachschauen, wie stark der Befall tatsächlich ist. Sie können Rückmeldungen, etwa von Naturschutzstationen, bündeln – wir müssen das nicht machen“, sagt die Botanikerin, die aufgrund der vielen Anfragen zu ihrem Fund bereits am frühen Nachmittag mit heiserer Stimme spricht. Eines hat sie also schon erreicht: Öffentlichkeit schaffen für eine potenzielle Gefahr, die die Strandlust nicht verderben muss, wenn man um sie weiß.

Nicht nur die Mutterkörner im Schlickgras sind ein Problem, auch das Gras selbst: Spartina anglica ist eine Art, die an der deutschen Nordseeküste nicht heimisch ist. Die Kreuzung eines englischen und eines nordamerikanischen Schlickgrases wurde zwischen 1927 und 1952 künstlich angepflanzt, um Land zu gewinnen oder zu befestigen – in seinen Büscheln lagert sich Schlick ab. Inzwischen hat sich das Gras zu einer invasiven Art entwickelt, das heißt, es verbreitet sich auf Kosten der heimischen Natur. So verdrängt es den Queller, eine salzresistente Charakterpflanze des Lebensraums am Übergang vom Land zum Meer.

Bekämpfungsversuche mit Unkrautgiften, durch Mähen oder Ausgraben, haben bislang kaum gefruchtet. Nun sorgt der ungeliebte Emporkömmling als Wirt des Mutterkorn-Pilzes für zusätzliches Ungemach.