Der Tübinger Neurobiologe Mathias Jucker erhält die mit 100.000 Euro dotierte Auszeichnung der Akademie der Wissenschaften. Jucker sieht den Preis als Ansporn. Mehrfach musste er Kritik von klinischen Forschern einstecken.

Hamburg. Er hat schon viel über die Alzheimer-Krankheit herausgefunden und tappt womöglich doch noch im Dunkeln. Er geht wahrscheinlich in die richtige Richtung, aber vielleicht hat er sich auch verlaufen, gemeinsam mit etlichen Kollegen. „Mag sein“, entgegnet Mathias Jucker, wenn man ihn auf die Möglichkeit des Irrtums anspricht, um dann nach einem „Aber wissen Sie ...“ mit Verve seine Überzeugungen zu verteidigen. Seine charmante Stimme kiekst dann etwas, und sein Schweizer Dialekt tritt stärker hervor.

Es hat wohl auch mit Juckers einnehmender Persönlichkeit und seiner Freude an Herausforderungen zu tun, dass der in Nussbaumen im Kanton Aargau geborene Neurobiologe zu einem der bekanntesten Alzheimerforscher im deutschsprachigen Raum wurde. Der 51 Jahre alte Professor arbeitet am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Universität in Tübingen – dort, wo vor mehr als 100 Jahren Alois Alzheimer als erster die Symptome jener Form der Demenz beschrieb, an der heute allein in Deutschland rund 1,2 Millionen Menschen leiden. Für seinen besonderen Beitrag zur Alzheimerforschung erhält Jucker den diesjährigen, mit 100.000 Euro dotierten Hamburger Wissenschaftspreis, wie die Akademie der Wissenschaften in Hamburg am Mittwoch mitteilte. Die Verleihung wird am 22. November stattfinden. Das Preisgeld vergibt die Hamburgische Stiftung für Wissenschaften, Entwicklung und Kultur Helmut und Hannelore Greve.

Jucker sieht den Preis als Ansporn. Mehrfach musste er Kritik von klinischen Forschern einstecken, die ihm vorwarfen, dass sich seine Erkenntnisse aus Mäuse-Experimenten nicht auf den Menschen übertragen ließen. Um den Hintergrund zu verstehen, kann man zurückgehen bis zu jener Patientin, die Alois Alzheimer 1901 erstmals untersuchte. Auguste Deter, so ihr Name, erinnerte sich nicht mehr an den Namen ihres Mannes; ihre Stimmung wechselte rasch, sie verlor oft die Orientierung. Sie starb 1906. In Deters Gehirn entdeckte Alzheimer nie gesehene Eiweißablagerungen. Waren sie die Ursache ihrer Demenz?

Die Fachwelt ignorierte Alzheimers Erkenntnisse zunächst; erst Jahrzehnte später kam die Entdeckung des inzwischen verstorbenen Psychiaters wieder in das Blickfeld der Neurowissenschaften. Doch erst seit den 1990er-Jahren hat die Erforschung der Krankheit Fahrt aufgenommen. Es wurde entdeckt, dass einige Alzheimer-Patienten – schätzungsweise weniger als ein Prozent aller Betroffenen – eine Genveränderung aufweisen, die zwangsläufig zu der Demenz führt. Eines dieser Gene schleusten Forscher in Mäuse ein, um mehr über die Entstehung der Krankheit herauszufinden. In die Gehirne solcher Versuchstiere spritzte der US-Wissenschaftler Larry Walker im Jahr 2000 Hirnextrakte von verstorbenen Alzheimerkranken – mit der Folge, dass die Mäuse die gleichen Plaques aus sogenannten Amyloid-Beta-Proteinen entwickelten. Walker, der damals auch schon mit Mathias Jucker zusammenarbeitete, konnte aber nicht zweifelsfrei zeigen, dass die Ablagerungen in den Mäusehirnen tatsächlich durch die gespritzten Hirnextrakte entstanden waren und nicht andere Ursachen hatten.

Eiweiße im Gehirn können womöglich eine gefährliche Form annehmen

Eben dieser Nachweis gelang 2006 einem Team um Jucker. Amyloid-Beta-Proteine können statt ihrer normalen Form aus bisher ungeklärten Gründen eine andere Gestalt annehmen. Jucker zeigte, dass solche falsch gefalteten Eiweiße weitere Amyloid-Beta-Proteine in die gleiche womöglich gefährliche Form überführen können. Diese krankhaften Veränderungen verbreiteten sich von der Injektion selbstständig durch das Gehirn der Tiere. Diese Kettenreaktion ähnelt der Wirkung von Prionen, infektiösen Eiweißen, die BSE bei Rindern und Scrapie bei Schafen auslösen.

2010 veröffentlichte Jucker die Ergebnisse eines weiteren Experiments. Er und sein Team hatten den Versuchstieren die Hirnextrakte von Alzheimerpatienten in die Bauchhöhle injiziert – sieben Monate später zeigten sich bei den Tieren Amyloid-Beta-Proteine im Gehirn. Die mutmaßliche Alzheimersaat war also irgendwie durch den Körper ins Gehirn gewandert – ob dies über das Blut geschehen kann, ist bis heute nicht nachgewiesen. Unklar ist auch, ob anormale Amyloid-Beta-Proteine überhaupt auch beim Menschen die gleiche fatale Kettenreaktion im Gehirn auslösen. Und offen ist zudem, ob und wie das Protein die Nervenzellen zum Absterben bringt. „Die Demenz entsteht letztendlich durch die Funktionsstörung von Nervenzellen, nicht durch die Amyloid-Beta-Proteine selbst. Und wie die Funktionsstörung entsteht, verstehen wir bisher nicht“, sagt Jucker.

Mit Spannung warteten Befürworter der These, Amyloid-Beta sei der Auslöser der Erkrankung, 2012 auf die Ergebnisse von Studien dreier Pharmafirmen. Mehr als 3000 Patienten, die an milden Formen der Demenz litten, hatten neue Medikamente bekommen, die Amyloid-Beta hemmen sollten. Ergebnis: Die Verschlechterung der Symptome ließ sich nicht aufhalten. All jene Kritiker fühlten sich bestätigt, die die Fokussierung auf Amyloid-Beta für einen Irrweg halten – und so auch Juckers Tierversuche.

Medikamente sollten früher eingesetzt werden als bisher, meint Jucke

Der Neurobiologe glaubt dennoch weiter daran, dass Amyloid-Beta der richtige Ansatzpunkt ist. Denn bei allen Menschen mit dem besagten Gendefekt werde zu viel von dem Protein produziert oder zu wenig abgebaut. „Folglich muss man doch annehmen: Wenn es gelingt, die erhöhte Produktion zu verhindern, verhindert man die Erkrankung.“ Allerdings sollten Medikamente bereits eingesetzt werden, bevor sich Amyloid-Beta-Protein im Gehirn ansammle. „Wir müssen die erste Saat bekämpfen“, sagt Jucker.

Solche Versuche machten allerdings nur Sinn mit Probanden, bei denen man sicher sein könne, dass sie Alzheimer bekommen werden – den genetisch vorbelasteten. Weltweit 400 solcher Menschen will die internationale Forschungsinitiative DIAN für eine neue Medikamentenstudie gewinnen. Jucker koordiniert den deutschen Teil der Initiative, der beim Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in Bonn angesiedelt ist. Dazu kam es, weil sich Betroffene an ihn wandten, die von seiner Alzheimerforschung gehört hatten. Bisher hat Jucker für die neue Medikamentenstudie acht Familien hierzulande gefunden, deren Mitglieder schon an Alzheimer leiden oder eben zwangsläufig daran erkranken werden.

Für den Neurobiologen, der lange nur an Mäusen forschte und dadurch immer eine gewisse Distanz zur Alzheimer Erkrankung wahren konnte, ist sein Thema jetzt unmittelbar mit menschlichen Schicksalen verknüpft. Das treibt ihn zusätzlich an, belastet ihn aber auch. „Diese Familien liegen mir sehr am Herzen – und natürlich träume ich davon, ihnen helfen zu können“, sagt er. Und setzt hinzu: „Aber vielleicht zeigt sich in zehn Jahren auch, dass es wieder nicht funktioniert hat. Dann müssen wir uns etwas Neues überlegen.“ Parallel betreibt Jucker weiterhin Grundlagenforschung, sucht nach Biomarkern, Signalen im Körper, die früh auf Alzheimer hindeuten könnten.

Selbst wenn er an Wochenenden mit seiner Frau und seinen drei Kindern seinen Heimatort Nussbaumen besucht und in den Schweizer Bergen wandert, lassen ihn die Gedanken an seine Forschung nur selten los. Es liegt noch so vieles im Dunkeln? „Na, eben“, sagt Jucker.