Pflanzliche Einzeller haben beim IBA-Algenhaus ihre Arbeit aufgenommen und machen das Gebäude zum Vorzeigeprojekt

Hamburg. Der Start ins Leben könnte nicht besser sein: Ende April wurden die Fassadenelemente des Algenhauses auf der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Wilhelmsburg mit der Mikroalge Chlorella gefüllt, schon können sich die pflanzlichen Einzeller im strahlenden Sonnenschein ans Werk machen. Die Glaswand erzeugt nicht nur Wärme und Biomasse, sie bindet auch das Treibhausgas CO2 und sorgt für ein echtes Biowohngefühl.

Intelligent konstruierte Gebäude, so schätzt die EU, könnten bis zu 42 Prozent Energie, 30 Prozent Wasser und 35 Prozent CO2-Ausstoß einsparen helfen. Einige Konzepte des intelligenten Bauens sind in Wilhelmsburg zu bewundern. Unter ihnen sticht das Algenhaus hervor. Grün leuchtet schon von Weitem die Fassade, und grün ist auch der Anspruch des BIQ getauften Gebäudes. Es ist das erste Haus der Welt mit einer Fassade aus Glasbioreaktoren, die Wärme liefern und dank der wachsenden Grünalgen per Fotosynthese Kohlendioxid (CO2) aufnehmen.

„Durch das besondere Energiekonzept sind die Nebenkosten des BIQ sehr niedrig, wenn alles so funktioniert wie geplant“, sagt Bauherr Stefan Wulff, Geschäftsführer der Otto Wulff GmbH, die die Wohnungen im BIQ vermietet. Seine Firma hat den Löwenanteil der fünf Millionen Euro Baukosten für den fünfgeschossigen, knallgrün gestrichenen Wohnquader gestemmt.

Wie viele Kilowattstunden Energie die 800.000 Euro teure, größtenteils über IBA-Gelder finanzierte Algenfassade genau liefert, muss erst noch erforscht werden. Bioreaktoren in einer Fassade sind absolutes Neuland. Doch es gibt Modellrechnungen. Demnach kann die Fassade rund 48 Prozent des auftreffenden Sonnenlichtes in nutzbare Energie umwandeln. Herzstück des vom Grazer Architekturbüro Splitterwerk entworfenen Gebäudes sind Glasfassaden an der Südost- und Südwestfront. In 129 zusammenschaltbaren Bioreaktoren, durch die die grüne Flüssigkeit mit den einzelligen Algen strömt, wird das Sonnenlicht in zwei andere Energieformen umgewandelt: in Wärme und Algenbiomasse. Und nicht nur das. Laut Martin Kerner, Geschäftsführer der auf Mikroalgentechnologie spezialisierten Firma Strategic Science Consult (SSC), können die taschenbuchdicken Glasquader noch mehr: Die Chlorella-Algen in den knapp drei Meter hohen und 70 Zentimeter breiten Biolamellen wirken als Lichtschutz, denn sie passen ihre Farbe der Sonnenintensität an. Zwei vor jeden Reaktor geklebte Glasplatten sorgen für Wärmedämmung und Lärmschutz.

Erst die multifunktionale Nutzung an Hausfassaden lässt die Algenreaktoren an der Wirtschaftlichkeitsgrenze kratzen. Bisher wurden sie von Experten als „unterirdisch ineffizient“ eingestuft. Um die energetischen Prozesse in den Bioreaktoren zu optimieren, haben sich die BIQ-Planer einiges einfallen lassen. Die flachen Kollektoren sind ähnlich wie Heizkörper miteinander verbunden. „Um das Medium in Bewegung zu halten, genügt eine Pumpe mit einer Leistung von wenigen Watt“, erklärt Kerner – zehnmal weniger als bei üblichen Algenreaktoren.

Zudem blubbern periodisch große Luftblasen in die CO2-gesättigte Algenlösung. Sie durchmischen die Einzeller, sodass es ihnen weder zu hell noch zu heiß wird. Mithilfe der Bewegung wird der Reaktor über kleine Putzkörperchen auch von innen gereinigt. Die Ernte der Biomasse erfolgt laut Kerner kontinuierlich und vollautomatisch. Denn nur frische Kulturen teilen sich und überleben. „Solange das System nicht einfriert, kann es ganzjährig betrieben werden“, erläutert Kerner.

Die Energiebilanz des BIQ ist nur deshalb positiv, weil die Biomasseproduktion mit einer weiteren Form der Energiegewinnung gekoppelt wurde. Kerner: „Es ist ein hybrides System. Wir können ungefähr 38 Prozent der eingestrahlten Sonnenenergie über Solarthermie als Wärme einfangen und weitere zehn Prozent in Form von Algenbiomasse speichern.“ Die Solarthermie soll ein Gutteil der Energie für Warmwasser und Heizung des 15-Parteien-Hauses liefern: Das von den Algen nicht zum Wachstum genutzte Sonnenlicht heizt die grüne Flüssigkeit auf und wird über Wärmetauscher in das Heizsystem eingespeist. „Energie, die im Sommer übrig bleibt, speichern wir in Erdsonden“, erklärt der Biologe. Diese leiten überschüssige Wärme in 80 Meter Tiefe, wo sie im Erdreich gespeichert wird. Im Winter könne dann rund 70 Prozent der eingelagerten Energie mittels einer Wärmepumpe für die Warmwasserbereitung und Heizung zurückgewonnen werden. Kerner glaubt fest daran, dass seine Rechnung aufgeht. Schließlich ist seine Firma für die Wärmekostenabrechnung des BIQ zuständig. Stimmt die Bilanz nicht, sitzen die Mieter zwar nicht im Kalten. Denn das Haus ist an das Nahwärmenetz Wilhelmsburg-Mitte angeschlossen und hat außerdem eine Gastherme, deren Verbrennungsgas CO2 die Algen für ihr Wachstum durch Fotosynthese nutzen. Doch Kerner säße dann auf den Kosten.

Künftig soll es in Algenhäusern noch eine weitere Art der Energiegewinnung geben. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) entwickelt Kerner einen chemisch-physikalischen Prozess, um Erdgas und Wasserstoff aus der Algenbiomasse erzeugen zu können. Mithilfe einer Brennstoffzelle soll dann Strom, Wärme und das für die Algenkultur benötigte CO2 gewonnen werden. Entsprechende Häuser wären weitgehend energieautark. Um die in den Reaktoren heranwachsende Biomasse zu gewinnen, werden in Wilhelmsburg die Algen in einem mannshohen Kessel im Keller des BIQ vollautomatisch geerntet und andernorts verwertet. Die ölhaltigen Einzeller eignen sich als Fischfutter oder als Wirkstofflieferanten der Kosmetik- und Pharmaindustrie. Nach Extraktion der Wertstoffe können die Reste in Biogasanlagen verwertet werden. „Man könnte grundsätzlich auch im BIQ Biogas erzeugen“, sagt Kerner.

Bauherr Wulff, die beteiligten Ingenieure und Algenexperten sind sich einig: Das Wohnen hinter der Algenfassade ist ein Experiment. Dazu brauche es junge, technologiebegeisterte Mieter, die Spaß haben, etwas Neues auszuprobieren. Vier derartige Pioniere sind bereits in das Algenhaus eingezogen.