Gesundheitsschäden durch Luftverschmutzung könnten in Deutschland pro Jahr Kosten in Milliardenhöhe verursachen. Kohlekraftwerke stoßen verschiedene Schadstoffe aus, vor allem Feinstaub, Schwefeldioxid und Stickoxide.

Berlin. Spätestens seit der Katastrophe von Fukushima will die Mehrheit der Deutschen weg vom Atomstrom. Doch alternative Energien allein können den Bedarf bisher längst nicht decken. Und da Emissionen und Kohle gerade ohnehin so günstig sind, wird ein Fossil der Energieindustrie nun wiederbelebt: Kohlestrom boomt. Die Braunkohle- und Steinkohleverstromung habe zuletzt wieder zugenommen, teilte Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) vor Kurzem mit.

Was zunächst nach einem lukrativen Geschäft klingt, könnte sich unter dem Strich allerdings nicht auszahlen – zumindest für Staatshaushalt und Gesundheit. Denn eine neue europaweite Studie der Allianz Gesundheit und Umwelt (HEAL) in Brüssel zeigt nun, dass wir den billigen Strom am Ende womöglich mit höheren Gesundheitskosten bezahlen werden. „Unsere Analyse enthüllt die externen Kosten, die bei energiepolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden sollten“, sagte Anne Stauffer, stellvertretende Geschäftsführerin von HEAL, einem Zusammenschluss von mehr als 65 Nichtregierungsorganisationen. Über die Ergebnisse diskutierten am Mittwoch in Berlin Gesundheits- und Umweltexperten, darunter auch eine Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation.

Der Studie zufolge lassen sich allein in Deutschland rechnerisch 2722 Todesfälle und 1280 Fälle von chronischer Bronchitis mit mehr als 800 Krankenhauseinweisungen auf Schadstoffe der Kohleverstromung zurückführen. Infolge solcher Gesundheitsschäden würden die Deutschen jedes Jahr insgesamt 600.000 Tage auf der Arbeit fehlen und an mehr als 2,7 Millionen Tagen mit eingeschränkter Leistung arbeiten. Damit schadeten die Kohlekraftwerke nicht nur der Volksgesundheit, sondern auch den Staatskassen – bis zu sechs Milliarden Euro jährlich könnten die Todes- und Erkrankungsfälle kosten. In ganz Europa rechnen die Experten mit 42,8 Milliarden Euro Kosten durch Gesundheitsschäden infolge des Schadstoffausstoßes.

Neu sind solche Schätzungen nicht. Bereits im Vorfeld gab es reichlich Diskussionen über eine Studie der Universität Stuttgart, die von Greenpeace in Auftrag gegeben und Anfang April vorgestellt worden war. Deren Autoren waren zu dem Schluss gekommen, dass durch den Schadstoffausstoß von Kohlekraftwerken europaweit jedes Jahr wohl etwa 3100 Menschen vorzeitig sterben. Die Kraftwerkbetreiber hatten der Studie scharf widersprochen: Sie sei unseriös und blende wichtige Erkenntnisse aus, „mit der klaren Absicht, den Energieträger Kohle zu diskreditieren und den Menschen Angst zu machen“, sagte Hubertus Altmann von Vattenfall. Es werde der Eindruck erweckt, Emissionen und Krankheit würden direkt voneinander abhängen, obwohl dies so nicht nachzuweisen sei.

Diese Kritik könne für die HEAL-Studie nicht gelten, sagte Geschäftsführerin Anne Stauffer am Mittwoch. Zwar lasse sich kein einzelner Todesfall auf die Emissionen eines einzelnen Kohlekraftwerks zurückführen, allerdings könne man beziffern, welchen Anteil die Kraftwerke an der gesamten Luftverschmutzung trügen. Und diese erhöhe erwiesenermaßen das Risiko sowohl von Herz-Kreislauf- als auch für Lungenerkrankungen deutlich. Entsprechend seien die Autoren der HEAL-Studie bei ihren Berechnungen vorgegangen. Als Grundlage dienten Daten zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Emissionen aus früheren Studien, auf die sich die Weltgesundheitsorganisation stütze. In diesen Arbeiten würden die Schadstoffbelastungen in einen quantitativen Zusammenhang mit Krankheiten gestellt. Darauf aufbauend lasse sich schließen, welche gesundheitlichen Folgen die Emissionen von Kraftwerken allein hätten. Wichtig sei aber, die zusätzliche Schadstoffbelastung nicht für jedes Kraftwerk und seine Anwohner einzeln zu ermitteln, sagte Stauffer. Denn das war bereits bei der Greenpeace-Studie kritisiert worden. „Ein großer Teil der Emissionen wird über weite Entfernungen transportiert. Es macht deshalb mehr Sinn, die allgemeine Gesundheitsbelastung für die Gesamtbevölkerung zu berechnen.“

Wohlgemerkt: Es handelt sich um Berechnungen, die auf Schätzungen basieren. Ob es vor diesem Hintergrund überzeugend ist, konkrete Zahlen zu nennen, also etwa 2722 Todesfälle durch Luftverschmutzung, blieb bei der Präsentation am Mittwoch offen.

Ohnehin sind die Ergebnisse nur bedingt überraschend. „In der Wissenschaft ist schon lange bekannt, dass nicht nur der Straßenverkehr, sondern auch die Kohleverstromung die Luftqualität maßgeblich verschlechtert“, sagte Joachim Heinrich vom Institut für Epidemiologie des Helmholtz Zentrums in München bei der Vorstellung der HEAL-Studie in Berlin. Bisher trügen die Kraftwerksbetreiber aber nur einen Bruchteil der Kosten, die sie durch die Schadstoffe verursachten.

Das liegt eben auch daran, dass die individuellen Schäden schwer nachzuweisen sind. Kohlekraftwerke stoßen verschiedene Schadstoffe mit unterschiedlichen Wirkungen aus, vor allem Feinstaub, Schwefeldioxid und Stickoxide. Ab und an mögen diese zwar keine schlimmen Folgen haben. Werden sie jedoch täglich eingeatmet, kann das zu chronischen Schäden führen. Tückisch am Feinstaub ist seine Größe: Mikroskopisch kleine Partikel können bis in die Tiefen der Lungenbläschen vordringen und sich dort ansammeln.

Solche Fremdkörper werden vom Abwehrsystem bekämpft. Die chronische Entzündung, die dabei entsteht, schädigt wahrscheinlich die Lunge und das Herzkreislaufsystem. Dauerhafte Feinstaubbelastung erhöht laut aktueller Studien das Risiko für Herz-Kreislauf- und chronisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD). Zudem kann sich die Lungenfunktion verschlechtern, Asthma-Beschwerden können zunehmen. Im Gegensatz dazu schädigen Schwefeldioxid und Stickoxide hauptsächlich auf indirektem Weg: Beide fördern die Entstehung von Ozon. Und dieses Spurengas kann ebenso asthmatische Beschwerden hervorrufen oder verstärken.

Trotz aller medizinischer Bedenken ist Kohlestrom noch immer ein wichtiger Bestandteil der deutschen Energieversorgung. Neben Polen und Rumänien gehört Deutschland zu den drei EU-Ländern, die am stärksten zur Luftverschmutzung durch Kohleverstromung beitragen.

HEAL hatte nach eigenen Angaben den Interessenverband der Braunkohlebranche und den Verband der Kraftwerksbetreiber eingeladen, bei der Vorstellung der Studie direkt Stellung zu nehmen. Diese lehnten ein Kommen aber ab. Zu Wort meldete sich später der Fachverband für die Strom- und Wärmeerzeugung, VGB PowerTech, in Essen. „Wir bezweifeln, dass diese Zahlen tatsächlich die Realität abbilden“, sagte Sprecher Christopher Weßelmann. Die Studiendaten müssten nun eingehend geprüft werden.