Zwei Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima ist die Frage nach der Entsorgung des Mülls noch weitestgehend ungelöst.

Fukushima. Am 11. März 2011 begann für Japan ein Albtraum. Ein Seebeben der Stärke 9 erschütterte Honshu, löste einen Tsunami aus, der bis zu zehn Kilometer tief ins Landesinnere eindrang und sich in manchen Buchten hochhaushoch auftürmte. 20.000 Menschen starben. Hunderttausende wurden obdachlos. Die Naturkatastrophe zerstörte auch wichtige Teile des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi: In drei Reaktoren kam es zu Kernschmelzen, in zweien kam es zu Explosionen. Die Hülle eines vierten Blocks, in dem ein gefülltes Brennelementbecken außer Kontrolle geriet, flog in die Luft. In den Stunden und Tagen nach dem Unfall evakuierten die Behörden Menschen im Umkreis von bis zu 30 Kilometern, und in den Wochen und Monaten danach mussten auch noch die Bewohner einiger weiter entfernter Dörfer und Kleinstädte gehen. Schließlich suchten 210.000 Evakuierte in Flüchtlingslagern und bei Verwandten Zuflucht.

Auslöser dieses zweiten GAUs in der zivilen Geschichte der Kernenergie war eine Naturkatastrophe. Die Ursache hingegen, so stellten es 2012 zwei japanische Untersuchungskommissionen fest, war "menschliches Versagen": So hätten Betreiber und Aufsichtsbehörden wissentlich Risiken missachtet.

Seit zwei Jahren sind Zehntausende Menschen damit beschäftigt, die Folgen einzudämmen. Anders als in Tschernobyl, wo lediglich ein Reaktor explodierte, stehen am Ufer des Pazifiks gleich vier Havaristen. Das erschwert die Arbeiten. Immerhin ist Block 1 seit einiger Zeit von einer luftdichten Hülle umgeben, damit keine Radioaktivität mehr nach außen dringt. Diese sogenannte Einhausung besteht aus einer Stahlkonstruktion, auf die Kunststoffelemente montiert werden.

An den Blöcken 2 und 3 passiert derzeit nicht viel. Vor allem wird aufgeräumt und überwacht, ob die Kernschmelze, die sich am Boden der Reaktordruck- und der Sicherheitsbehälter angesammelt hat, auch ausreichend gekühlt wird. Die Aktivitäten konzentrieren sich derzeit auf Block 4. Die Explosion vom 15. März 2011 hatte vor allem die unteren Gebäudeteile zerrissen, seitdem ist seine Standsicherheit gefährdet. Zwar wurden Stützen eingezogen, aber niemand kann sagen, ob diese einem schweren Beben standhalten. Weil der Block zum Zeitpunkt der Katastrophe wegen einer Revision nicht in Betrieb war, kam es dort zwar nicht zur Kernschmelze. Dafür lagern mehr als 1000 Brennelemente im oberen Gebäudebereich - derzeit unter freiem Himmel, weil es kein Dach mehr gibt. Und so baut der Betreiber Tepco seit Januar 2013 an einer Stützkonstruktion, die die Einhausung von Block 4 tragen soll. Diese wird, anders als bei Block 1, nur den Gebäudeteil mit dem Lagerbecken umschließen. Für den unteren reiche ein Wetterschutz, so Tepco.

Um die Gefahr, die von Block 4 ausgeht, so schnell wie möglich zu beseitigen, lief im Juli 2012 ein Test, bei dem mithilfe eines Krans zwei Brennelemente aus dem Becken geholt wurden. Das funktionierte, und so sollen nun alle Brennelemente herausgeholt werden. Sie werden unter Wasser in Transportbehälter verladen und per Lkw zur weiteren Kühlung in ein ehemals gemeinsam von allen Anlagen am Standort Fukushima Daiichi genutztes Nasslager transportiert. Dort muss aber erst Platz geschaffen werden.

Viele Probleme sind ungelöst. Regen- und Grundwasser dringt in die Anlagen ein. Und niemand weiß, wo die Leckagen sind, an denen das hoch kontaminierte Wasser herausläuft. Außerdem ist der Kühlkreislauf immer noch nicht völlig geschlossen. Und so werden immer neue Lagerbehälter aufgestellt, wachsen die Wassermengen, die dekontaminiert werden müssen - und Umweltschützer fürchten, dass Tepco irgendwann wieder dazu übergehen könnte, die strahlenden Abwässer ins Meer zu leiten. Ein anderes Problem ist der Atommüll, der bei den Aufräumarbeiten auf dem Gelände entsteht. 52.000 Kubikmeter Metall und Beton und 72.000 Kubikmeter Holz sollen, nach ihrer Strahlenbelastung sortiert, an verschiedenen Stellen auf dem Gelände in Zwischenlagern untergebracht werden.

Der Atommüll ist auch außerhalb von Fukushima Daiichi ein riesiges Problem. "Im Moment wird überall aufgeräumt und dekontaminiert", sagt Wolfgang Weiss. Er ist Vorsitzender von UNSCEAR, des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung. Es geht um ganze Landstriche, um Städte, Dörfer, Felder, Wiesen, Wälder. Letztere überziehen weite Areale in dem hügelig-bergigen Gelände. "Die Wälder sollen abgeholzt werden", sagt Weiss, "aber dadurch wird die Ökologie vollkommen zerstört." Instabile Hänge seien dann wohl noch das kleinste Problem.

Derzeit putzen Arbeitskolonnen, Bewohner und Freiwillige das Land: Um die Strahlendosis zu senken, wird Laub entfernt, werden Gebäude abgeschrubbt, die obersten fünf Zentimeter des Bodens mühsam abgekratzt, ebenso die obersten Schichten von Straßen. Berge von schwach strahlendem radioaktiven Müll entstehen - und niemand weiß, wohin damit. Denn der Müll darf nicht transportiert werden. Allein in der Präfektur Fukushima liegt das Material in Plastiksäcken verpackt in mehr als 5000 Behelfslagern. Dazu kommen Hunderttausende von Müllsäcken in Gärten, auf Feldern. Kein Wunder, dass es zu illegaler Müllbeseitigung kommt: Immer wieder werden Fälle bekannt, wo der strahlende Abfall im nächsten Fluss oder Wald verschwindet.

Dabei denkt die Regierung seit fast zwei Jahren darüber nach, wie Zwischenlager aussehen müssten. Es sollten spezielle Deponien sein, von doppelten Betonmauern und einer dicken Lage Bentonit umgeben - ein sehr quellfähiges Tonmineral, das die Umwelt zusätzlich vor dem Inhalt dieser "Betonschüssel" schützen soll. Zusätzlich soll Erde die Deponie bedecken. Das Problem sind die anfallenden Müllmassen. Diverse Forschungsprojekte laufen, um diese Massen zu reduzieren. Mal sollen wärmeliebende Bakterien kontaminierte Blätter verdauen, ein anderes Mal soll Dampf das Radiocäsium aus dem Aushub waschen. Auch für Beton gibt es Ideen: Nanobläschen sollen das Radiocäsium herauswaschen. Alle diese Methoden scheinen zu funktionieren. Billig sind sie auch. Allerdings ist ihr Wirkungsgrad nur mäßig hoch. Der ist besser bei einer Methode, die Böden mit Oxalsäure auflöst und das Cäsium dann durch absorbierendes Material auffängt. Aber dieses Verfahren wäre teuer, und was am Ende herauskommt, ist kein Boden mehr.

Und so bleiben Unsicherheit und Angst, und zwar nicht nur bei den Evakuierten, sondern auch bei den rund zwei Millionen Menschen, die in den Präfekturen Fukushima und Ibaraki leben und ebenfalls vom radioaktiven Fallout getroffen wurden - wenn auch in geringerem Maß als in den Evakuierungszonen. Eigentlich bräuchten sich die Menschen in keiner Bevölkerungsgruppe Sorgen machen, sagt Wolfgang Weiss. Untersuchungen von Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen hätten gezeigt, dass deren Strahlenbelastung sehr niedrig sei. Das gelte auch für die Menschen, die die betroffenen Regionen meist verließen, ehe die Explosionen die Betonhüllen der Reaktoren sprengte. Die Belastung der Bevölkerung im schlimmsten ersten Jahr lag - den verfügbaren Zahlen zufolge - bei höchstens zehn Millisievert (mSv). Das ist etwa das Vierfache der natürlichen Hintergrundstrahlung in Deutschland. Gesundheitliche Folgen seien bei diesen Werten nicht zu erwarten, so Weiss.

Zu diesem Schluss kommt auch die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer ersten Risikoabschätzung. Nur für die am stärksten kontaminierten Gebiete außerhalb der 20-Kilometer-Zone, die erst Wochen nach dem Unfall evakuiert worden waren, sehen die Experten einen Effekt: Für sie erhöhe sich das lebenslange Krebsrisiko leicht. Es geht um Orte wie das Dorf Iitate und die Kleinstadt Namie. In diesen am stärksten betroffenen Gebieten steige beispielsweise das auf die Lebenszeit berechnete Schilddrüsenkrebsrisiko für Mädchen, die zum Zeitpunkt des Unfalls jünger als ein Jahr waren, um 70 Prozent. Das ist allerdings das relative Risiko. In absoluten Zahlen wirkt es anders: "Statistisch gesehen entwickeln von allen Mädchen dieses Alters 0,75 Prozent im Laufe ihres Lebens Schilddrüsenkrebs. Durch Fukushima kommen 0,5 Prozent hinzu", sagt Angelika Tritscher von der WHO, die zu den Autoren der Studie gehört.

Keith Baverstock von der Universität Ostfinnland in Kuopio ist von dem WHO-Bericht enttäuscht. "Die Abschätzung des gesundheitlichen Risikos der Menschen ist immer nur so gut wie die der Dosen, die ihr zugrunde liegt." Und an der gebe es einiges zu kritisieren. So fürchtet die Ärzteorganisation IPPNW, dass es in Japan zusätzliche 117.000 Krebsfälle durch Fukushima geben wird. Aber selbst die träten über die Jahre hinweg auf und drohten deshalb, in einer normalen epidemiologischen Statistik nicht aufzufallen.

Wie groß die Verunsicherung der Menschen ist, belegen erste Untersuchungsergebnisse des Medical Health Survey, mit dem die japanische Regierung die Gesundheitsfolgen des Unfalls bei zwei Millionen Menschen verfolgen lässt: "Etwa die Hälfte einer Kohorte von Tepco-Arbeitern zeigen sehr starke Symptome der Depression und Verzagtheit, und in der Bevölkerung gibt es ähnliche Hinweise." Ein Fünftel der Evakuierten ist traumatisiert. Werte, wie sie bei den Überlebenden des Terroranschlags auf das World Trade Center auftreten.