Forschergruppe gelangen erstmals Aufnahmen im Reich des Tintenfisches, der vor gut 100 Jahren als Monster angesehen wurde

Sein metallisch glänzender Körper schwebt durch tiefschwarzes Wasser. Es scheint so, als hätte sich Architeuthis extra in seine Partyrobe geworfen, um bei den ersten Filmaufnahmen eines Riesenkalmars in seinem Lebensraum eine gute Figur zu machen. Das Tier war im Sommer 2012 in 600 Meter Tiefe ins Blickfeld eines internationalen Forscherteams unter Leitung des japanischen Meeresbiologen Tsunemi Kubodera geraten und fasziniert nun Ozeanologen und Meeresfans. Am Sonntag zeigt das ZDF die im Sommer 2012 entstandenen Aufnahmen.

Der Riesenkalmar (Architeuthis) galt über Jahrhunderte als "Meeresungeheuer". Die erste Aufzeichnung über den Fund eines "kuriosen Fisches" stammt aus dem 16. Jahrhundert. Das Tier trieb tot vor der dänischen Küste und erschreckte die Zeitgenossen, die von der Existenz einer solchen Meereskreatur nichts ahnten. Sie beschrieben den Körper als "rot wie eine Mönchskutte" und sprachen vom "Seemönch". Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kam ihr Landsmann Prof. Japetus Steenstrup zu dem Schluss, dass das seltsame Tier ein sehr, sehr großer Tintenfisch ist.

Weit dramatischer verlief die Begegnung zwischen Mensch und Riesenkalmar anno 1861 nordöstlich von Teneriffa. Sie diente Jules Verne in seinem Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" (erschienen 1870) als Vorlage. Verne schmückte sie noch ein wenig aus: Die Mannschaft der Korvette "Alecton" bemerkte "ein Ungeheuer von Kalmar, das in diesen Gewässern schwamm. Der Commandant Bouguer näherte sich dem Tier, griff es mit der Harpune und der Flinte an, ohne großen Erfolg, denn die Kugeln und die Spitzen der Harpunen erzielten in der gallertartigen Masse keine Wirkung. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen gelang es den Matrosen schließlich, eine Schlinge um den Körper des Mollusken zu werfen. Diese Schlinge glitt bis zur Schwanzflosse und zog sich dort zu. Darauf versuchte man das Tier an Bord zu ziehen, aber sein Gewicht war so bedeutend, dass es beim Hinausziehen seinen Schwanz im Stiche ließ und ohne diesen Schmuck in den Wogen verschwand."

Es gibt widersprüchliche Aussagen darüber, ob der Kalmar bei der Begegnung bereits tot oder am Sterben war - fest steht, dass sein Körper leblos in den Fluten versank. Den Schwanzabschnitt brachte die "Alecton", die unter dem Befehl eines Leutnants namens Bouyer stand, nach Teneriffa. Bouyer reichte einen Bericht ein, der noch im selben Monat der Französischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt wurde. Das ist symptomatisch für die Forschung zu Architeuthis: Fast alle Kenntnisse stammen von toten Körpern, die im Meer trieben und von Fischern geborgen oder an Stränden angespült worden waren. Einige Hinweise fanden sich in den Mägen von Pottwalen, deren Leibspeise riesige Calamari-Portionen sind. Dass der Tintenfisch eine durchaus wehrhafte Beute darstellt, zeigen zahlreiche Abdrücke von großen Saugnäpfen an Pottwalkörpern. Manche sind so dicht gesät wie Ringe von Biergläsern auf Bartresen.

Mithilfe der Todfunde ließen sich zumindest anatomische Daten erheben. Die Tiere haben zwei Fangarme (Tentakeln), die mehr als doppelt so lang sind wie ihr zwei bis drei Meter messender Körper. Acht Greifarme packen die Beute (Tiefseefische, andere Kalmare). Die teils mit Dornen bewährten, bis zu fünf Zentimeter großen Saugnäpfe an Tentakeln und Armen sorgen dafür, dass die Nahrung dem Kalmar nicht entgleitet. Die am Kopf sitzenden Arme führen die Beute zur Mundöffnung, die einem großen Papageienschnabel gleicht. Gigantisch sind die Augen der Tiere: Sie erreichen die Größe von Basketbällen und können in der pechschwarzen Umgebung genügend Licht sammeln, um Beutetiere zu erkennen - und lauernde Feinde.

Das größte bislang registrierte Architeuthis-Exemplar maß hochgerechnet 16 Meter (inklusive Tentakeln) und könnte zu Lebzeiten fast eine Tonne schwer gewesen sein. Da Riesenkalmare nicht älter als fünf Jahre werden, müssen sie in ihrer Jugend rasend schnell wachsen. Sie pflanzen sich nur einmal im Leben fort, indem ein männlicher Kalmar sein Spermienpaket in die Arme eines Weibchens drückt - "was dann passiert, ist Raterei", schreibt Prof. Clyde Roper von der renommierten Smithsonian Institution in Washington. Wo genau die Befruchtung stattfindet, sei unklar. Vermutlich entlässt das Weibchen mehrere gallertige Eiballen ins Wasser und überlässt damit mehr als eine Million befruchtete Eier ihrem Schicksal.

Etwa ein Dutzend der tot aufgefundenen erwachsenen Kalmare war in einem so guten Zustand, dass die Tiere für Museen präpariert werden konnten. Einer von ihnen ging im August 2003 neuseeländischen Fischern versehentlich ins Netz und landete im Labor des Tintenfischforschers Dr. Steve O'Shea in der Technischen Universität Auckland. Zusammen mit Volker Miske, Meereszoologe an der Universität Greifwald, arbeitete er das gut sechs Meter lange Männchen auf. Miske brachte das Tier ins Deutsche Meeresmuseum Stralsund und untersuchte es. Es ist der erste ausgestellte Riesenkalmar in Deutschland. Seit 2005 ist das Tier im Ozeaneum Stralsund in der Ausstellung "1:1 Riesen der Meere" zu sehen. In direkter Nachbarschaft wird das lebensgroße Modell eines Pottwals gezeigt, der mit einem Riesenkalmar kämpft.

Die Vorliebe der Pottwale für Architeuthis nutzen Wissenschaftler, um dem Tiefseekalmar auf die Spur zu kommen. Tsunemi Kubodera vom Nationalen Wissenschaftszentrum Tokio forschte bereits in den vergangenen Jahren mehrmals bei den südöstlich von Japan gelegenen Ogasawara-Inseln, da sich dort regelmäßig Pottwale versammeln. Im September 2004 gelang es dem Spezialisten mithilfe einer automatischen Kamera, Architeuthis erstmals in der Tiefsee zu fotografieren - in vier Stunden entstanden mehr als 550 Aufnahmen. Eine erste Filmsequenz folgte zwei Jahre später: Die Forschergruppe um Kubodera holte einen lebenden Riesenkalmar an einer Langleine an die Oberfläche und ließ die Kamera laufen. Das sieben Meter lange Weibchen starb und wurde konserviert.

Die Forscher hatten einen Traum: Sie wollten Architeuthis lebend in seiner natürlichen Umgebung filmen. Das ZDF dokumentiert die Suche, an der im vergangenen Sommer 50 Wissenschaftler und Ingenieure aus elf Ländern beteiligt waren, in der Sendereihe "Terra X". Der texanische Meeresbiologe Prof. Randall Davis setzte zunächst auf die Wale: Mit einem spektakulären Manöver heftete er einem Pottwal vom Boot aus eine Kamera an den Riesenkopf, in der Hoffnung, dass der Wal die Forscher zu seiner Nahrung führt. Doch während des Abtauchens drehte sich das Tier heftig und rieb sich an Artgenossen. Die Kamera löste sich ab und stieg zur Oberfläche auf.

Der Neuseeländer Steve O'Shea setzte sich ins Tauchboot und nahm einen Riesenkalmar-Cocktail von einem angespülten Kadaver mit in die Tiefe, den er dort freisetzte. Die im zerkleinerten Tintenfischbrei enthaltenen Pheromone (Sexuallockstoffe) sollten einen Artgenossen anziehen. Doch es ließ sich nur ein wesentlich kleinerer Kalmar sehen. Der allerdings konnte vom Lockstoff kaum lassen.

Kollegin Dr. Edith A. Widder aus Florida hatte mehr Glück: Sie servierte in 700 Meter Tiefe eine technische Leuchtqualle, die die typischen Lichtsignale einer Kronenqualle aussendete. Tatsächlich griff ein Riesenkalmar die Kunstqualle an und wurde gefilmt. Allerdings war der Blickwinkel der Kamera fixiert, sodass die Schwarz-Weiß-Aufnahmen hauptsächlich einzelne umherschweifende Arme zeigten.

Der erste Tauchbooteinsatz seines Lebens machte den Forschertraum von Tsunemi Kubodera wahr: In 600 bis 900 Meter Tiefe sah er erstmals live in die Riesenaugen von Architeuthis: "Das war phänomenal. Er war wirklich groß und wunderbar", schwärmt Kubodera.

Volker Miske freut sich über den Erfolg seines japanischen Kollegen, den er persönlich kennt und sehr sympathisch findet: "Wir haben nun erstmals Filmaufnahmen im natürlichen Lebensraum in Farbe. Gleichzeitig ist die erste Direktbeobachtung in seinem Habitat gelungen, die uns noch mehr zum natürlichen Verhalten der Tiere verrät. Dieses ist bislang kaum bekannt. Nun eröffnen sich uns neue Fenster in die Welt der Riesenkalmare", sagt der Greifswalder Tintenfischforscher.

Der nächste wissenschaftliche Meilenstein wäre, einem Tier einen Datenrekorder anzuheften. Dieser würde die Wanderungen von Architeuthis, sein Auf- und Absteigen sowie Daten zur Wasserqualität aufzeichnen. "Noch später" sei dann sogar denkbar, eine ganze Reihe von Tieren mit Datensammlern auszustatten, so Miske. "Damit ließe sich unter anderem klären, ob sich Riesenkalmare zu bestimmten Zeiten irgendwo zusammenfinden, zum Beispiel Fortpflanzungsregionen haben, in denen dann möglicherweise die Fischerei für diese Zeit untersagt werden sollte." Vorerst bleibt es bei der Begegnung mit einem einsamen Kalmar in metallisch glänzender Partykleidung.

Fernsehsendung "Terra X", ZDF, 17.2., 19.30 Uhr. Vortrag "Die Welt der Tintenfische": Ozeaneum Stralsund, 21.2., 19 Uhr, Eintritt drei Euro. Website www.tintenfische.info