Es gab echte Durchbrüche, aber auch voreilige Verkündigungen - die wichtigsten Wissenschaftsereignisse des Jahres

Hamburg. Forscher haben 2012 große Erfolge gefeiert. Doch auch Übertreibungen prägten das Geschäft.

Higgs, Higgs, Hurra

"Ich denke, wir haben es" - so verkündete Rolf-Dieter Heuer, Direktor des Forschungszentrums CERN, im Juli den größten Durchbruch in der Physik seit Jahrzehnten: die Entdeckung eines Teilchens, bei dem es sich wohl um das Higgs-Boson handelt. 1964 postuliert, bildet es das zentrale und bis heute letzte unbewiesene Element im Standardmodell der Teilchenphysik, das den Aufbau unserer Welt beschreibt. Seine Existenz würde die Theorie über das Higgs-Feld bestätigen, einen unsichtbaren Äther, der dafür sorgt, dass sich Teilchen zusammenballen und Materie bilden - Sterne, Planeten, Menschen.

Nach den bisherigen Erkenntnissen stimmt das gefundene Teilchen mit den Vorhersagen des Standardmodells überein, doch noch im Abendblatt-Interview vor vier Wochen wollte sich Rolf Dieter-Heuer nicht festlegen, ob es sich tatsächlich um das Standard-Higgs handelt. Das abschließende Urteil könnte auf der Teilchenphysikerkonferenz in La Thuile Ende Februar fallen.

Von einem "Gottesteilchen" reden die Physiker übrigens nie. Zwar war es Physiknobelpreisträger Leon Lederman, der das Higgs 1993 in einem Buch als "gottverdammtes Teilchen" bezeichnete. Den Buchtitel "Das Gottesteilchen" ersann aber sein Verleger. Gott selbst war das Higgs-Boson bis zuletzt wohl neu - glaubt man Peter Schrank, dem Zeichner unseres Cartoons.

Lernten Neandertaler vom Menschen?

Die Neandertaler konnten anspruchsvolle Werkzeuge und Schmuck aus Knochen herstellen. Allerdings entwickelten sie diese Fertigkeiten in Europa wohl nicht selbst, sondern sie hatten Lehrmeister: die ersten modernen Menschen auf dem Kontinent. Zu diesem Schluss kamen Leipziger Forscher nach der Analyse von Gesteinsschichten in einer Höhle in Frankreich, die sie eindeutig Neandertalern zuordnen konnten. Da zu dieser Zeit (vor 44.500 bis 41.000 Jahren) bereits Menschen Teile von Frankreich besiedelt hatten, sei davon auszugehen, dass die Neandertaler die Werkzeuge und den Schmuck erst produzierten, nachdem Menschen diese neuen Verhaltensweisen eingeführt hatten. In einer anderen Studie berichteten britische Forscher, dass Höhlenmalereien in Nordspanien zum Teil 40.800 Jahre alt sind. Damit könnten die Werke auch von Neandertalern stammen, die damals dort lebten.

Der leichteste Feststoff der Welt

Er wiegt 75-mal weniger als Styropor und leitet elektrischen Strom sehr gut: der leichteste bekannte Feststoff der Welt, den Forscher aus Hamburg und Kiel entdeckten. Aerografit nennen sie das Material, das aus Kohlenstoffröhrchen besteht. Diese bilden eine Art Schwamm mit unzähligen Poren, in denen Luft enthalten ist. Zieht man das Gewicht der Luft ab, wiegt der Verbund 0,2 Milligramm pro Kubikzentimeter. Zum Vergleich: Luft wiegt 1,2 Milligramm pro Kubikzentimeter. Enthielten die Poren ein Vakuum, würde der erstaunliche Stoff einfach davonschweben. Er könnte für leichtere Batterien genutzt werden, etwa in Elektroautos.

Angeblich todbringender Gen-Mais

Gentechnisch veränderter Mais der Sorte NK 603 von Monsanto erhöht das Risiko, an gefährlichen Tumoren zu erkranken - das behaupteten französische Forscher nach Versuchen mit Ratten. Wie sich herausstellte, ist diese Behauptung nicht haltbar; die von dem Gentechnik-kritischen Verbund Criigen geförderte Studie hat schwere methodische Mängel. Die Zahl der Versuchstiere sei zu gering für eine Zweijahresstudie, außerdem sei der verwendete Rattenstamm grundsätzlich anfälliger für Krebs als andere Stämme, kritisierten die europäische Lebens- mittelbehörde EFSA und das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung.

Sommereis in der Arktis dünn wie nie

Negativrekord am Nordpol: Die Eisfläche, die zum Ende des Sommers in der Arktis übrig blieb, war so klein wie nie zuvor seit Beginn der Satellitenmessung 1973. Als Ursache gilt die Erderwärmung. Die Schmelze habe nicht nur Folgen für Eisbären und Robben, vielmehr gerate die gesamte polare Nahrungskette durcheinander, sagen Forscher. Und infolge des Temperaturanstiegs in der Arktis erwärmten sich weltumspannend die Ozeane.

Curiosity landet auf dem Mars

Ein Roboterfahrzeug von der Größe eines Geländewagens auf dem 228 Millionen Kilometer entfernten Mars abzusetzen - dieses Kunststück gelang der Nasa im August. Die Frage, ob es Leben auf dem Roten Planeten gab (oder noch gibt), hat die 2,5 Milliarden Dollar teure Mission bisher aber nicht beantwortet. Zwar fand der Rover Curiosity (Neugierde) Kohlenstoff im Marssand, die Grundlage allen Lebens wie wir es kennen. Es sei aber unklar, ob das Element tatsächlich vom Mars stamme oder von Meteoriten - oder ob der Rover es mitgebracht habe, teilte die Nasa mit, die zuvor eine Entdeckung "für die Geschichtsbücher" angekündigt hatte.

Lonesome George starb einsam

Die Nachricht vom Tod der Galápagos-Riesenschildkröte Lonesome George ging um die Welt. Das Männchen galt als letztes Exemplar der Unterart Chelonoidis abingdoni. Jahrelang hatten Biologen vergeblich versucht, Weibchen anderer Unterarten mit George zu paaren, um seine Gene zu bewahren. Ende November stellte sich heraus: Lonesome George war zwar der letzte seiner Art, doch wurden ähnliche genetische Merkmale in mindestens 17 anderen Schildkröten gefunden, meldete der Galápagos-Nationalpark. Bleibt fraglich, ob eine Reproduktion möglich ist.

Gelähmte Ratten laufen wieder

Querschnittgelähmten Menschen wieder auf die Beine zu helfen - davon träumen Ärzte schon seit jeher. Neurowissenschaftler aus der Schweiz sind diesem Ziel womöglich einen Schritt nähergekommen: In Experimenten mit an den Hinterbeinen gelähmten Ratten gelang es ihnen, die Tiere durch eine elektrochemische Stimulation des Rückenmarks und mit einem neuartigen Roboteranzug zum Laufen zu bringen. Das Besondere gegenüber früheren Studien ist, dass die Ratten nach kurzer Zeit die willkürliche Kontrolle über ihre Bewegungen zurückerlangten. Die Forscher wollen womöglich schon im nächsten Jahr mit klinischen Studien beginnen, um herauszufinden, ob das Verfahren in leicht veränderter Form beim Menschen funktioniert.

Lesen Sie morgen: Was Hamburger Forscher 2013 vorhaben