Die Osteoporose-Therapie könnte vom Geweih profitieren - dem am schnellsten wachsenden Knochen in der Tierwelt.

Hildesheim/Hamburg. Im Wildpark Schwarze Berge hat Prof. Michael Amling einen Lieblingsplatz. "Im Tal der Hirsche finde ich es großartig, dass man den Geweihen fast beim Wachsen zusehen kann", sagt der Direktor des Instituts für Osteologie und Biomechanik am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Imposant sehe es aus, wenn die Tiere ihr bis zu zehn Kilogramm schweres Geweih scheinbar mühelos auf dem Kopf tragen. Scheu, aber stolz schreiten sie durch ihr Gehege - und das zu Recht. Der Fortsatz am Schädel der Tiere ist der am schnellsten wachsende Knochen in der Tierwelt. Und damit eine Hoffung bei der Behandlung von menschlichen Knochenkrankheiten.

Jedes Jahr werfen Hirsche ihr Geweih ab, um es in nur wenigen Monaten wieder neu zu bilden. Täglich kann der mit Haut, auch Bast genannt, überzogene Knochen um bis zu zwei Zentimeter wachsen. "Es ist spektakulär, was Hirsche leisten. Ein Wunder der Natur, welches in ähnlicher Weise auch bei uns Menschen zu beobachten ist", sagt Amling. Besonders bei den Frauen. "Jede schwangere Frau baut ihre eigene Knochenmasse ab, um das Skelett ihres Kindes zu erschaffen."

Das Problem dabei ist, dass die Frau ihre zuvor abgebauten Knochen - anders als der Hirsch - nicht so schnell wieder aufbauen kann. "Wenn die Frau dann auch noch, wie 85 Prozent der Hamburger, an Vitamin-D-Mangel leidet, kann sie an einer Schwangerschaftsosteoporose erkranken." Es wäre daher ein Riesengewinn, wenn das Rätsel vom außergewöhnlichen Knochenwachstum bei den Geweihträgern endlich gelöst würde", sagt der Osteoporose-Experte. Nicht nur für Schwangere: Fast acht Millionen Menschen (5,5 Millionen Frauen und 2,3 Millionen Männer) in Deutschland leiden an der Knochenkrankheit. Allein 120.000 Hüftfrakturen sind im Jahr auf Osteoporose zurückzuführen.

Auch beim Hirsch komme es zu osteoporoseähnlichen Erscheinungen, das Tier könne sie allerdings rückgängig machen, sagt Prof. Uwe Kierdorf, Geweihforscher der Universität Hildesheim. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Horst Kierdorf, Leiter des Instituts für Biologie und Chemie, erforscht er das Geweih, das dem Wiederkäuer nicht nur sein unverwechselbares Aussehen verleiht, sondern das auch ein hervorragendes Modell für das Knochenwachstum ist. "Bei Osteoporose ist das Problem, dass wir einen Knochenmasseverlust haben, den man beim Menschen zwar verlangsamen, aber nicht umkehren kann.", sagt Uwe Kierdorf. Ein osteoporotischer Knochen lasse sich nicht zu einem gesunden zurückentwickeln. Genau das passiere aber beim Hirsch, so der Fachmann. Er und sein Bruder untersuchen seit 32 Jahren, wie und warum der Knochen so schnell wächst. Sie wollen herausfinden, was der Mensch vom Hirsch "lernen" kann. Seit dem Studium sind die Zwillinge vom Geweih fasziniert. "Eigentlich schon früher, denn unser Vater war Jäger", sagt Uwe Kierdorf. Die Geweihforschung sei jedoch immer schon ein exotisches Projekt gewesen, "das war und wird nie Mainstream". Für ihn sei es einfach spannend zu beobachten, wie ein solches Gebilde innerhalb von 120 Tagen zu einer Länge von bis zu einem Meter heranwachsen kann.

Noch geht es bei der täglichen Arbeit um reine Grundlagenforschung, aber es gibt bereits erste Erkenntnisse. Der sogenannte Rosenstock - ein Auswuchs des Stirnbeins - spielt offenbar eine entscheidende Rolle. "Wir wissen heute, dass im oberen Abschnitt des Rosenstocks Stammzellnischen existieren, von denen aus die Regeneration jährlich in Gang kommt", erklärt Kierdorf. Eine weitere Erkenntnis sei, dass die Hirsche in der Wachstumsphase des Geweihs Knochenmasse an anderen Stellen im Körper abbauten, zum Beispiel an den Rippen. Das frei werdende Calcium fließe in den Aufbau des Geweihs, erklärt der Forscher. Nur so könne etwa der erwachsene Rothirsch in dreieinhalb Monaten eine Struktur mit zwölf bis 14 Kilogramm Knochenmasse bilden. Sobald das Geweihwachstum abgeschlossen sei, würden die zuvor im Körper abgebauten Knochen wieder aufgebaut. Dieses Wissen könnte in Zukunft auch in eine verbesserte Osteoporose-Therapie beim Menschen einfließen, hofft Uwe Kierdorf.

Doch Hirsche lassen sich nicht wie Mäuse oder Ratten in Laborkäfigen halten, was die Geweihforschung vor Probleme stellt. Die beiden Professoren aus Hildesheim arbeiten deshalb eng mit anderen Forschungseinrichtungen zusammen. In Spanien betreiben Wissenschaftler zu Forschungszwecken ein Hirschgehege. "Wir schauen dort, wie sich Fütterungssituationen und Nährstoffverfügbarkeit auf die Qualität des Geweihs auswirken", sagt Uwe Kierdorf. Ihr nächstes Projekt sei es, mittels Farbstoffen, die im Geweihknochen eingelagert werden, zu bestimmen, welche Bereiche des Knochens wann gebildet werden.

Trotz aller Bemühungen im In- und Ausland bleibt vorerst unklar, wie der immer wiederkehrende Neuaufbau des Geweihs im Detail funktioniert. Die Hildesheimer Forscher schätzen, dass es noch mindestens zehn Jahre dauern wird, das Geheimnis zu entschlüsseln. Bis die Erkenntnisse dann auch in der Osteoporose-Therapie oder gar in der Regenerationsmedizin zum Einsatz kommen können, würden wohl noch viele weitere Jahre vergehen.