78 Prozent sehen den Leistungsdruck in der Arbeitswelt negativ. Im Ruhestand setzen Menschen vor allem auf Solidarität.

Bremen/Hamburg. Um ihre finanzielle Absicherung im Alter machen sich Menschen vermehrt Sorgen. Doch was denken die Deutschen generell über die Arbeitswelt, deren Entwicklung und das, was danach im "Alter" kommt? Prof. Peter Kruse, Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen, hat zum demografischen Wandel und zu dem, was die Deutschen darüber denken, Menschen verschiedenen Alters befragt. Und herausgefunden, dass sie sich in vier verschiedene Typen einteilen lassen.

Im Auftrag der Hamburger Körber-Stiftung hat Kruse mit seiner in Bremen beheimateten Firma nextpractice die Studie "Alter: Leben und Arbeit" erstellt. Aus ihr geht hervor, welche verborgenen Erwartungen, Wünsche und Ängste die Deutschen in Bezug auf das Alter haben. Kruse und sein Team befragten dazu im August und September bundesweit 205 Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren. Die sogenannten Tiefeninterviews dauerten im Durchschnitt zwei Stunden.

Das Besondere an dieser Studie: Kruse fragte nicht - wie es mithilfe von Fragebögen oftmals passiere - nach leicht beeinflussbaren und instabilen Meinungen. Vielmehr bringt der Wissenschaftler durch seine computergestützten Interviews die Teilnehmer dazu, ihre Wertemuster, sogenannte intuitive Präferenzen, zu den Themen "Leben", "Alter" und "Arbeit" preiszugeben. Kruse nennt es "assoziative Paarvergleiche", wenn die Interviewten vorgegebene alltagsnahe Lebenssituationen mit ihren eigenen Worten beschreiben und dann ebenso schnell wie unkontrolliert "aus dem Bauch heraus" positiv oder negativ bewerten.

"Jeder Mensch ist über seine Intuition ein Messinstrument für kulturelle Resonanz", sagt Kruse. Die Wertemuster, die das Handeln von Menschen steuern, werden in der jeweiligen persönlichen Lerngeschichte gebildet und seien - im Gegensatz zu Meinungen - nachhaltig und stabil, aber dem Betroffenen größtenteils nicht bewusst. Mit seinen Interviews macht der Wissenschaftler in einem gewissen Sinn Zukunft vorhersagbar. Denn Änderungen der Wertemuster laufen der Änderung des Verhaltens voraus und führen damit erst nach und nach zu einer Änderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. "Wenn sich das kulturelle Wertesystem ändert, sind entsprechende Verhaltensänderungen nur eine Frage der Zeit", so Kruse.

Um den Prozess zu verdeutlichen, führt der Wissenschaftler den chinesischen Automarkt an. Bislang seien deutsche Automobilhersteller mit ihren Fahrzeugen dort auch deshalb so erfolgreich, weil die automobile Konsumkultur in China noch stark westlich geprägt ist. Die Wertemuster vieler Chinesen präferieren klar deutsche Autos. Bei seinen Untersuchungen habe sich aber herausgestellt, dass diese Muster in Bewegung geraten. "Es ist zu erwarten, das neue Kundengruppen an Bedeutung gewinnen, die eindeutig chinesisch geprägte Fahrzeuge nachfragen", sagt Kruse. Ein Automobilhersteller, der das heute schon weiß und entsprechend reagiert, hat in ein paar Jahren gute Karten.

Im Rahmen der Studie erhoben Kruse und sein Team insgesamt 2720 persönliche Aussagen. Mithilfe eines speziell entwickelten Analyseverfahrens verdichteten sie diese zu 64 Themen. Dadurch sei eine dreidimensionale Landkarte kollektiver Einstellungen, Einschätzungen und Ideale zum Alter entstanden, sagt Kruse. Nur wenn klar sei, was Menschen wirklich fürchteten oder anstrebten, wüssten die Gestalter des demografischen Wandels, womit sie auf Zuspruch oder auf Widerstand stießen, ergänzt Karin Haist, Leiterin des Bereichs Gesellschaft der Körber-Stiftung.

Zunächst fanden die Forscher um Peter Kruse heraus, dass es unter den Deutschen vier Typen gibt, die das Alter jeweils aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Mit 34 Prozent ist am stärksten der kollektiv-solidarische Alterstyp mit dem Wertemuster "Solidarität" vertreten. Menschen, die zu dieser Gruppe gehören, setzen auf soziale Gerechtigkeit und Umverteilung. Nach Kruses Worten misst sich für diese Menschen die "Kultur einer Gesellschaft am Umgang mit ihren schwächsten Mitgliedern".

Die zweitstärkste Gruppe ist der Studie zufolge der hedonistische Alterstyp (30 Prozent). Er sucht im Alter Spielräume und Selbsterfahrung, sein Wertemuster ist das "Erlebnis". Menschen dieser Gruppe gehen davon aus, dass man auch im Alter aufgrund des medizinischen Fortschritts lange aktiv bleiben könne, sagt Kruse. Rückzug und Isolation seien keine normalen Risiken des Alters, sondern in erster Linie eine Folge zu knapper finanzieller Mittel. "Es geht diesen Menschen darum, Spaß zu haben und so lange wie möglich zu genießen."

Etwa ein Fünftel der Deutschen (22 Prozent) ist der Studie zufolge dem aktiv-leistungsorientierten Alterstyp und damit dem Wertemuster "Initiative" zuzuordnen. Für diese Menschen sei das Alter "eine Phase der Freiheit, des kultivierten Austausches und der ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit", sagt Kruse. Dabei seien die Mitglieder dieser Gruppe bereit, sich anzustrengen. Allerdings lehnten sie Überversorgung ab, weil diese die Eigenständigkeit bedrohe.

Mit 14 Prozent gehörten dem wertkonservativen Alterstyp mit dem Wertemuster "Würde" die wenigsten Deutschen an, ergab die Studie. Menschen dieses Typs sähen das Alter als eine Lebensphase der Reife, Souveränität und Gelassenheit, sagt Kruse. "Jenseits der Hektik des Berufslebens übernehmen die alten Menschen Vorbildfunktion und geben ihre Erfahrungen an die Jüngeren, die Kinder und Enkelkinder weiter", so der Psychologe.

Fasst man alle Interviews zusammen, so kommt Kruse zu einem ernüchternden Ergebnis. "Deutschland hat sich eindeutig entsolidarisiert", sagt der Wissenschaftler. Der Druck auf den Einzelnen habe in der heutigen Arbeitswelt deutlich zugenommen. Vom Einzelnen würden maximale Mobilität und hohe Einsatzbereitschaft verlangt. Das Problem: "Die Menschen bekommen ihrem Empfinden nach nicht genug zurück", sagt Kruse. "Vielmehr sehen sie sich mit immer stärkerem Wettbewerb und Lohndumping konfrontiert." Rund 75 Prozent der Befragten gaben deshalb an, die Arbeitswelt entspreche ganz und gar nicht ihren Idealvorstellungen.

Der Wissenschaftler spricht von einer "Rendite-Orgie", die seit Anfang der 90er-Jahre die deutsche Gesellschaft prägt. Jetzt merkten viele Menschen, dass die Betonung von Eigeninitiative und Leistungsstreben nicht zu mehr allgemeinem Wohlstand, sondern lediglich zu einer gewaltigen Umverteilung von Reichtum geführt habe. "Wird in der Arbeitswelt weiterhin zu einseitig auf individuelle Leistungsappelle gesetzt, schürt das Konflikte", sagt Kruse.

Für den Wissenschaftler ist klar, dass es in Deutschland eines grundsätzlich geänderten Denkens und Handelns bedarf, um für die Zukunft gerüstet zu sein. "Mit dem demografischen Wandel verschieben sich die Präferenzen der Menschen von Wettbewerb und Effizienz zu Solidarität."