Bis in die 1980er-Jahre wurden die Menschen immer größer - innerhalb eines Jahrhunderts um 15 Zentimeter. Warum eigentlich jetzt nicht mehr?

Jena. Napoleon Bonaparte und Mesut Özil trennen 15 Zentimeter. 1,66 Meter soll der französische Feldherr laut Angaben seines Totenscheins gemessen haben; die Körpergröße des deutschen Fußballnationalspielers wird mit 1,81 Metern angegeben. Was die beiden noch trennt, sind 200 Jahre Evolution. So schauten - rein physisch - auf Napoleon zu seiner Zeit gar nicht so viele Menschen herab, wie das heute der Fall wäre. Denn in den Industrieländern sind die Menschen immer größer geworden - innerhalb eines Jahrhunderts um 15 Zentimeter.

Wie genau das geschehen ist, erforscht das Jenaer Institut für Humangenetik. Alle zehn Jahre messen die Mediziner aus Thüringen die Körpergrößen von Kindern verschiedener Altersgruppen. Bis ins 19. Jahrhundert reichen ihre Aufzeichnungen über das jugendliche Wachstum zurück. Was sich zeigt, ist der "säkulare Trend", wie ihn Katrin Kromeyer-Hauschild nennt. Als erstes schossen Menschen aus höheren sozialen Schichten in die Höhe, die Ärmeren folgten dann nach. Doch seit den 1980er-Jahren herrscht nunmehr Stillstand auf der Längenskala - bis heute. Die Ursachen, erklärt die Leiterin des anthropologischen Arbeitsbereiches, seien in der Umwelt zu suchen. Welche Körpergröße ein Mensch erreicht, wird nämlich zu 90 Prozent von seinen Genen bestimmt. Den Rest beeinflussen äußere Lebensbedingungen. Wenn es um die nicht so rosig bestellt ist, so lässt sich das prompt an der Wachstumskurve ablesen: Die Entbehrungen des Zweiten Weltkrieges beispielsweise brachten im allgemeinen Aufwärtstrend Einbrüche mit sich. "In den anderen Zehnjahresperioden stiegen die Körpergrößen stets um etwa zwei Zentimeter an. In den Kriegsjahren stagnierten sie dagegen bei den Jungen und nahmen unter den Mädchen sogar sechs Millimeter ab."

+++Arbeitslosigkeit wirkt sich auf Körpergröße der Kinder aus+++

+++Zahlreiche Gene bestimmen die Körpergröße+++

Krankheiten, Hygiene und verfügbare Nährstoffe schlagen sich hier nieder. Oberste Priorität haben dabei Proteine. Sie sind diejenigen, die dafür sorgen, dass in der Hirnanhangdrüse mehr Wachstumshormone produziert werden. Die aktivieren dann andere Proteine; ein Vorgang, der schließlich in vermehrter Zellteilung und Zellwachstum mündet.

Heutzutage ist die wichtige, eiweißreiche Kost, wie Käse und Milch, in Deutschland schon fast im Überfluss vorhanden. Und so hat die Körperlänge eine Art Sättigungszustand erreicht: Die von den Erbanlagen her mögliche Variation wird in der Höhe voll ausgenutzt. In Entwicklungsländern dagegen sind vielfach auch die Erwachsenen noch - generationenübergreifend - im Wachsen begriffen. 18-jährige Mädchen aus Kalkutta liegen im Schnitt mit 152 Zentimeter Körpergröße mehr als 17 Zentimeter unter Gleichaltrigen aus Brandenburg. Das wird in einer im April veröffentlichten Studie der Universität Potsdam und der westbengalischen Visva-Bharati-Universität deutlich. Allerdings spielen die unterschiedlichen genetischen Voraussetzungen neben der Versorgungslage eine so starke Rolle, dass solch direkte Vergleiche kaum möglich sind. "Es gibt immer Bevölkerungen, die kleiner sind als andere", meint die Potsdamer Biologin und Mitautorin Christiane Scheffler. So sind in kälteren Regionen "kugelförmige" Körperbauten vorteilhaft. "Das ist ziemlich komplex und wir wissen nie, ob die Menschen aus Entwicklungsländern einmal so groß werden wie wir", gibt Scheffler zu bedenken.

In Großbritannien hat der Wissenschaftler Barry Bogin die Körperlängen von Mayas verglichen, die noch in Guatemala leben, mit solchen, deren Eltern bereits nach Amerika ausgewandert sind. Genetisch dürften die beiden Gruppen kaum weit auseinanderliegen, sodass sich etwaige Schwankungen der Umwelt anrechnen lassen. Das Ergebnis ist eindeutig: Im wahrsten Wortsinn den "Kürzeren" ziehen die noch in Zentralamerika beheimateten Menschen, denn ihre Ernährung kann mit der der Nordamerikaner nicht mithalten. Allerdings bleiben auch die Auswanderer bislang noch hinter dem Schnitt der US-Amerikaner zurück.

Wie das Wachstum der Menschen etwa 100 bis 1500 Generationen vor Bonaparte und Özil aussah, schaut sich eine Berliner Forschungsgruppe an. Mit den Längen der Arm- und Beinknochen, vor allem der Oberschenkel urgeschichtlicher Skelette beschäftigen sich Eva Rosenstock und ihre Kollegen.

Sie greifen dabei auf bereits vorhandene Datenbanken von 30 000 Knochenfunden aus Vorderasien bis Nordeuropa zurück. Einfach ist die Arbeit trotzdem nicht: Von den Oberschenkeln zum ganzen Menschen ist es nämlich noch ein weiter Weg. Ein Weg, der über Berechnungsmodelle und theoretische Überlegungen führt. Herkunftsorte und -epochen wollen berücksichtigt werden. Schließlich könnte ein heutzutage ausgegrabenes, mitteleuropäisches Mordopfer die gleiche Knochenlänge wie ein Tausende Jahre altes Gerippe aus den Tiefen Südwestasiens haben und dennoch zu Lebzeiten ganz unterschiedlich groß gewesen sein. Vergleichbarkeit ist nur schwierig herzustellen. Und wer garantiert überhaupt, dass die Auswahl der erhaltenen Skelette die tatsächliche Bevölkerung realistisch widerspiegelt? Wohlmöglich zählten damals lange Menschen zu den Angeseheneren und wurden sorgsamer bestattet, sodass, wer jetzt danach sucht, sie in viel größerer Zahl auffindet.

Dass die harte Recherchearbeit sich lohnt, zeigen die ersten stichprobenartigen Ergebnisse der Gruppe vom Institut für Prähistorische Archäologie: Als die Jäger das Jagen ließen und sich 10 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung dem Ackerbau widmeten, wurden sie kleiner. Zuvor noch in puncto Körpergröße etwa auf dem Stand heutiger Industrienationen, war das eine Folge ihrer weniger eiweißreichen Ernährung, deutet Eva Rosenstock. Ihre Erwartungen sind erfüllt. Aß der Mensch Getreide statt proteinhaltigem Fleisches, so litt seine Länge.

Doch warum schrumpften auch solche Menschen, die in dieser Zeit noch von der Jagd lebten? Das Klima erwärmte sich und auf der Hand läge eine entgegengesetzte Entwicklung: Je heißer seine Umgebung, desto weniger Energie benötigt der Körper, um die Temperatur zu halten. Energie, die ihn in die Höhe schießen lassen könnte. Konnten sich mit der Hitze Krankheiten besser ausbreiten? Ein Rätsel, das das erst knapp ein Jahr tätige Forschungsteam nun entschlüsseln will.