... und leider gibt es kein Wiedersehen. Ist das globale Artensterben noch zu bremsen?

Hamburg. Er war der letzte Dinosaurier: Er taumelte, er strauchelte. Würde er wieder aufstehen und sich noch einmal berappeln? Oder hatte er einfach keine Kraft mehr, war seine Zeit vorbei? Ganz Hamburg bangte - bis endlich die erlösende Nachricht kam: Der HSV würde nicht absteigen. Der letzte Dino der Bundesliga war gerettet; vorerst zumindest.

Er war der Letzte seiner Art, ein urzeitlich anmutendes Reptil: Lonesome George, der einsame Riesenschildkrötenmann von der Galápagos-Insel Pinta. Gab es noch Hoffnung? Ein Weibchen, um die Spezies zu retten? Doch am 24. Juni 2012 machte sein Herz nicht mehr mit. Noch einmal nahm die Welt Anteil am Leben des seltensten Tiers der Erde. Dann war die Pinta-Riesenschildkröte ausgestorben wie die Dinosaurier.

Gehört das Werden und Vergehen nicht zum Leben auf dieser Erde dazu? "Jede Art lebt - und stirbt - auf ihre ureigene, einmalige Weise", schrieb der "Vater der Biodiversität", der Biologe Edward O. Wilson. Zum Schicksal der Pinta-Riesenschildkröte gehörte, dass Walfänger sie einst zu Tausenden als lebende Konservenbüchsen an Bord nahmen und dass ausgesetzte Ziegen ihre Insel kahl fraßen. Sodass sie schon als ausgerottet galt, als 1972 Lonesome George entdeckt wurde.

Mit seinem Ende ist er nicht allein: Die nordamerikanische Wandertaube war noch vor 200 Jahren der häufigste Vogel der Welt. Die Schwärme aus Milliarden von Tauben verdunkelten den Himmel; die Äste der Bäume brachen, wenn sich die Taubenmassen niederließen. Den weißen Siedlern lieferte die Wandertaube billiges Fleisch in Mengen. Unvorstellbar schien, dass sie nicht mehr da sein könnte, bis die Bestände nach maßloser Jagd zusammenbrachen - und 1914 die letzte Wandertaube namens Martha einsam im Zoo von Cincinnati starb.

Das Quagga, ein südafrikanisches Zebra, war nur zur Hälfte gestreift und wurde im 19. Jahrhundert ausgerottet, weil man Getreidesäcke brauchte, und die machte man aus den Häuten der Tiere. Der tasmanische Beutelwolf, ein einzigartiges Tier mit Streifen wie ein Tiger, dazu aber einem Beutel, in dem es seine Jungen großzog wie Känguru und Koala, starb 1936 aus; denn fälschlicherweise war es als Schaf-Killer verschrien. Der Chinesische Flussdelfin oder Baiji wurde erst jüngst Opfer der rasanten Entwicklung Chinas: Die Zerstörung seines Lebensraums und die Fischerei führten dazu, dass er die erste Walart war, die vom Menschen ausgerottet wurde.

Seit den 1990er-Jahren sind weltweit Hunderte von Froscharten verschwunden, ein zunächst mysteriöses Phänomen. Damit starben nicht nur wichtige Insektenvertilger aus. Viele Amphibien scheiden giftige "Froschschutzmittel" aus, um ihre dünne, feuchte Haut vor Pilzen und Bakterien zu schützen - Stoffe, die pharmakologisch wirksam und ökonomisch interessant sind. Der australische Magenbrüterfrosch hatte außerdem eine skurrile Lebensweise: Er verschluckte seine Eier, die Kaulquappen entwickelten sich im Magen der Mutter - und wurden dort also nicht verdaut. Nach acht Wochen sprangen fertige Fröschlein aus dem Maul. Vielleicht hätte man eine Substanz zur Behandlung von Magengeschwüren bei diesen Fröschen gefunden, doch sie gehörten zu den ersten Opfern des globalen Amphibiensterbens. Heute kennt man die Ursache: Der Chytrid-Pilz greift die Haut der Frösche an; die giftigen Sekrete der Frösche können ihm nichts anhaben. Der Pilz kam infolge des modernen Reiseverkehrs sogar in entlegendste Urwaldgebiete, wo er immer neue Arten tötete.

Längst sind es also nicht mehr nur Jagd und direkte Lebensraumzerstörung, die Arten bedrohen, sondern die Auswirkungen der globalisierten Welt. Auch der Klimawandel bedroht viele Arten. So steht der Eisbär auf der treibenden Scholle als Symbol für die globale Erwärmung; sein Lebensraum schmilzt ihm unter den Füßen weg. Doch nicht nur das gefährdet sein Überleben: Schon mehrfach hat man "Pizzly-" oder "Grolarbären" gefunden, Kreuzungen zwischen Eisbär (engl. Polar bear) und Grizzly. Aufgrund der steigenden Temperaturen wandern die braunen Bären nordwärts; die weißen müssen sich vermehrt an Land aufhalten. Dort treffen sie aufeinander und bekommen fruchtbare Junge, sogar schon in der zweiten Generation. Auch von mehreren Walarten sind solche Hybride bekannt. Wenn das Eis schmilzt, verschmelzen also auch Arten. Auch so können Spezies verloren gehen.

Wissenschaftler befürchten, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten von der Erde verschwinden könnten; dass ein Massenaussterben im Gange ist, vergleichbar mit dem der Dinosaurier. Der Tod der Urzeitechsen kam wohl durch einen Meteoriten. Danach begann der Aufschwung der Säugetiere, was auch zum Homo sapiens führte. Nur dauerte die Zeit der Regeneration der Artenvielfalt viele Millionen Jahre.

Der Unterschied zwischen dem plötzlichen Massensterben der Dinosaurier und dem heutigen Artensterben, das an Tempo zunimmt, sei wie der zwischen einer Herzattacke und einem heimtückischen Krebs, schrieb der Biologe E. O. Wilson: "Die Hoffnung ist, dass man den Krebs vielleicht noch behandeln kann." Denn der Natur wird es wieder völlig egal sein, ob die heutigen Arten weiter massenhaft aussterben, ganze Ökosysteme umkippen und das Antlitz der Erde wieder einmal umgekrempelt wird. Ob überall "macdonaldisierte" Lebensräume voll von Generalisten wie Ratten, Kaninchen, Ziegen und Wespen und "nützlicher" Arten bestehen. Sie wird neues Leben entstehen lassen - irgendwann.

Wozu braucht man aber die anderen Arten? Den Frosch im Tümpel vor der Haustür? Wozu brauchen wir eigentlich den HSV? Eine Antwort, neben all dem Nützlichkeitsdenken, ist: Weil es Menschen gibt, die Freude daran haben, dass beide mit ihren Geschichten hier existieren: der Frosch und jener Fußballverein aus der Urzeit der Bundesliga, der bis heute überlebt hat.

* Der Hamburger Lothar Frenz ist Diplombiologe und Journalist. Sein neues Buch "Lonesome George oder Das Verschwinden der Arten" ist gerade bei Rowohlt erschienen. 288 Seiten, 19,95 Euro. Skurril, traurig, überraschend - Geschichten über das Werden und das Vergehen in der Natur