Vor genau 100 Jahren erreichte der Norweger Roald Amundsen als erster Mensch den magischen Punkt. Sein Rivale Robert F. Scott kam im Eis um.

Südpol. Der 15. Dezember, ein Tag wie geschaffen zur Ankunft am Pol", schrieb Roald Amundsen in sein Tagebuch. Ein Irrtum: Der norwegische Entdecker, damals 39 Jahre alt, hatte bei der Reise in die Antarktis die Datumsgrenze überschritten und war der tatsächlichen Zeit einen Tag voraus. Gegen Mittag bestimmte er die Position seiner Expedition: Nur noch 13 Kilometer! Drei Stunden später an diesem Tag, morgen vor genau 100 Jahren, erreichten die fünf Männer ihr Ziel: den südlichsten Punkt der Erde, das Zentrum des unbekannten eisigen Kontinents Antarktis, den Südpol. Fünf Männer, vom Frost geschüttelt, ohne GPS oder andere technische Hilfsmittel, von moderner Schutzkleidung ganz abgesehen. Amundsen und seine Mitstreiter, Eislotse Helmer Hanssen, Marineunteroffizier Oscar Wisting, der Zollbeamte Sverre Hassel und Schlittenfabrikant Olav Bjaaland, errichteten ein Zelt über dem Punkt, den sie als Pol berechnet hatten, hissten die norwegische Flagge und tauften den Ort "Polheim". Auch zwei Briefe, adressiert an Norwegens König Haakon VII. und an Kapitän Robert F. Scott, seinen großen Widersacher, ließ Amundsen hier zurück.

+++ Faszination ewiges Eis +++
+++ Amundsen versus Scott +++

Am Südpol. Dabei war immer der Nordpol das große Ziel Amundsens gewesen. Das fünfte Kind des Schiffseigners Jens Amundsen und seiner Frau Gustava, geboren 1872 nahe Kristiania, dem heutigen Oslo, verlegte sich nach eher erfolglosem Studium von Zoologie, Philosophie, Französisch, Deutsch und Latein auf die Polarforschung. Er heuerte auf verschiedenen Schiffen an und legte das Steuermannspatent ab. Er fuhr mit der "Belgica" in die Antarktis und erlebte, wie das Schiff im Packeis einfror. Er durchfuhr die Nordwestpassage, den Seeweg in Nordamerika, der den Pazifik mit dem Atlantik verbindet.

Aber er wollte zum Nordpol! Dort, wo so viele gescheitert waren, wollte Amundsen die norwegische Flagge hissen. Ein genialer Planer, aber auch ein Egozentriker, der seine Ziele rücksichtslos verfolgte und - meist - durchsetzte. Mitten in die Vorbereitungen zur Nordpolexpedition platzte 1909 die Nachricht, der Amerikaner Robert Edwin Peary habe bereits den nördlichsten Punkt der Erde erreicht. Viel später wurde klar, dass Peary nie wirklich dort war. Ein Fehler, der Schicksal spielte.

Aber während seine Mannschaft das Ziel nicht kannte, hatte sich Amundsen längst entschieden, dann eben die Antarktis zu erobern. Am 9. August 1910 stach die "Fram" in See. Erst auf Madeira lüftete Amundsen sein Geheimnis. Der Wettlauf mit dem zwei Monate früher gestarteten Briten Robert Falcon Scott um die Eroberung des Südpols hatte begonnen. Ein Duell auf Leben und Tod im ewigen Eis.

Im Januar 1911, als beide Expeditionen die Ross-Schelfeis-Platte erreichten, die größte zusammenhängende Eisbarriere, hatte der Engländer noch neun Tage Vorsprung. Scotts Expedition schlug ihr Lager am Fuße des Vulkans Erebus auf, Amundsen in der 650 Kilometer entfernten und etwa 100 Kilometer näher am Südpol gelegenen Walfischbucht. Die Männer bauten Hütten, wuchteten Ausrüstung, Proviant und Brennstoff auf das Eis. "Framheim" nannten die Norweger ihr Zuhause auf Zeit. Die Rivalen hatten eine unterschiedliche Philosophie. Scott setzte auf Ponys, zwei Motorschlitten - ein dritter war beim Ausladen durch das Eis gebrochen - und die Muskelkraft seiner Männer. Amundsen hingegen verließ sich auf die Leistungsfähigkeit seiner 115 Schlittenhunde, die auch als lebende Vorratskammer dienten. Abgesehen von drei großen Lagern am 80., 81. und 82. Breitengrad mit insgesamt drei Tonnen Proviant im Abstand von 111 Kilometern. Unterwegs ernährten sich die Männer von Schiffszwieback, Schokolade, Milchpulver und Pemmikan - eine nahrhafte Mischung aus Fett und getrocknetem Fleisch, abgeschaut bei den Cree-Indianern.

Nach dem südpolaren Winter, in dem die Sonne Ende April für vier Monate versank und die Temperaturen bis auf minus 59 Grad fielen, packten die Norweger Mitte August 1911 ihre Schlitten. Jeweils 400 Kilogramm sollten von zwölf Hunden gezogen werden, immer mit der Sorge im Nacken: Was machen die Briten? Der erste Anlauf am 7. September musste nach einem Wetterumschwung abgebrochen werden, weil Thermometer und Kompass in beißender Kälte ihren Dienst einstellten. Erst am 19. Oktober wagte Amundsen einen neuen, finalen Anlauf. Er musste als Erster zum Pol, um seine hohen Schulden für das Projekt abzutragen.

Mit 37 Kilometer pro Tag war er im Plan, doch am dritten Tag versank Bjaalands Schlitten plötzlich in einer Spalte. Mit einem Seil versuchte der Norweger, das Gefährt vor einem Sturz in die Tiefe zu retten. Auf der anderen Seite kämpften die Hunde um ihr Leben, krallten sich am Boden fest. Erst mit der Hilfe aller Männer gelang es, das Gerät wieder aus der Spalte zu ziehen. Als sich solch brenzlige Situationen wiederholten, ahnte Amundsen, dass sie zu weit nach Westen von der geplanten Route abgekommen waren. Trotz eines Umweges erreichten die Männer das erste Proviantlager nach nur vier Tagesmärschen mit insgesamt 160 Kilometern. Selbst mit den nun wieder 400 Kilogramm schweren Schlitten schafften die Hunde 27 Kilometer am Tag.

Ihr letztes Vorratslager verließen die Norweger am 6. November. Weil sie diesen Ort bei der Rückkehr auf keinen Fall verpassen durften, legten die Männer im Abstand von fünf Kilometern meterhohe Schneehügel zur Orientierung an. Amundsen schien dem Pol geradezu entgegenzufliegen. Doch die größte Herausforderung lag noch vor ihnen: der Aufstieg auf das Festland. Aus den mächtigen Gletschern ragten die Gipfel der Landmasse auf, der Pol war noch 550 Kilometer entfernt. Auf diesem letzten und entscheidenden Weg durfte nur das Nötigste mit - und Proviant für 60 Tage. Am Bettygipfel betrat Amundsen zum ersten Mal seit Madeira im Sommer 1911 wieder Festland.

Der Anstieg war eine unmenschliche Tortur, immer vorbei an gefährlichen Gletscherspalten, die von Schneewehen überzogen waren. "Um einen Meter weiterzukommen, mussten wir sicherlich zehn Meter Umweg machen. Wen wird es da wundern, wenn wir diesen Gletscher den 'Teufelsgletscher' tauften?", schrieb Amundsen auf. In Schlafsäcken aus Rentierfell trotzten die Männer Wind und Kälte. Am Ende mussten sie einen Schlitten zurücklassen und 24 Hunde erschießen. Mit nur drei sechsspännigen Schlitten ging es wegen des schlechten Wetters auf die letzte Etappe. Am 7. Dezember überschritten die Norweger die südlichste Position, die bislang ein Mensch erreicht hatte. 1909 hatte Ernest Shackleton auf 88 Grad 22 Minuten südlicher Breite aufgeben müssen. Jetzt war es nur noch eine Woche bis zum Pol.

Eine ruhige Woche. Das Wetter spielte mit, das Ziel war rasch erreicht. 90 Grad südlicher Breite, der Pol.

Am 17. Dezember traten die Norweger erschöpft, aber glücklich den Rückweg an. Dank der zurückgelassenen Schneehügel fanden sie die richtige Spur und die angelegten Proviantlager problemlos. Nur selten erschwerten Schneetreiben und Nebel die Kursbestimmung. Man kam so schnell voran, dass sogar die Essensrationen erhöht werden konnten.

Am 9. Januar kreisten zwei Raubmöwen über den fünf Männern. Für Amundsen ein Zeichen, die erste "Botschaft aus dem Reich der Lebendigen", wie er schrieb.

Um vier Uhr am Morgen des 25. Januar 1912 standen Amundsen, Bjaaland, Wisting, Hassel und Hanssen mit zwei verbliebenen Schlitten und elf Hunden wieder vor ihrem Ausgangslager "Framheim". 99 Tage und 3000 einsame Kilometer über das Eis lagen hinter ihnen.

Die "Fram" wurde sofort beladen, verließ ihren unwirtlichen Liegeplatz und lief schon am 7. März 1912 in Hobart auf Tasmanien ein. Der Triumph der Norweger wurde in alle Welt verbreitet. Der Wettlauf zum Pol war gewonnen, Amundsens Risiko hatte sich ausgezahlt. Vom Schicksal der britischen Rivalen wusste er nichts.

Scott lag weit hinter den Norwegern. Die Motorschlitten hatten versagt, die Ponys waren der Witterung nicht gewachsen. Erst am 17. Januar, mehr als einen Monat nach Amundsen, erreichten Scott und seine Männer den Südpol - und sahen die norwegische Flagge. "Ein entsetzlicher Ort", notierte der Brite niedergeschlagen. "Und nicht einmal als Erster hier." Enttäuscht und entkräftet traten die fünf Männer den Rückweg an. Zu wenig Lebensmittel und schlechtes Wetter schwächten sie weiter. Am 17. Februar starb der Marineunteroffizier Edgar Evans nach einem schwerem Sturz am Fuße des Beardmore-Gletschers an einer Kopfverletzung. Lawrence Oates verließ während eines Schneesturms am 17. März das Zelt mit den Worten: "Ich gehe nur nach draußen und bleibe dort für eine Weile." Er kam nie zurück.

Auch seine verbliebenen Kameraden überlebten nicht. Henry Bowers, Edward Wilson und Robert F. Scott starben in einem tagelang andauernden Schneesturm - nur 18 Kilometer von einem wichtigen Proviantlager entfernt. Die letzten Zeilen, die Scott, 43 Jahre alt, am 29. März in sein Tagebuch schreibt, lauten: "Um Gottes willen, kümmert euch um unsere Leute." Die Grüße an seine Frau ersetzt er mit "an meine Witwe".

Und wie erging es den Norwegern? Helmer Hanssen und Olav Bjaaland starben mit weit über 80 Jahren an Altersschwäche. Oscar Wisting wollte knapp 25 Jahre nach der Pol-Expedition noch einmal an Bord der "Fram" übernachten. Man fand ihn am folgenden Morgen tot in seiner Koje. Sverre Hassel war bereits 1928 in Amundsens Garten an Herzversagen gestorben. Und Amundsen selbst? Der erste Mensch am Südpol stürzte am 18. Juni 1928 bei einer Rettungsaktion für den Italiener Umberto Nobile, der den Nordpol mit einem Luftschiff erreichen wollte, mit einem Suchflugzeug ab. Seine Leiche wurde nie gefunden.