Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf erklärt, was Lesen im Gehirn bewirkt - und was uns entgeht, wenn wir nur Texte im Internet lesen.

Hamburg. Maryanne Wolf nutzte schon länger das Internet, als sie erneut den Roman "Glasperlenspiel" von Hermann Hesse in die Hand nahm, ein Buch, das sie viele Jahre zuvor zum ersten Mal gelesen hatte. Es sei eine Tortur gewesen, sie habe die ersten Seiten wie eine Maschine gelesen, ohne Gefühl und Fantasie.

Für Wolf, die an der Harvard University in Erziehungswissenschaften promovierte, war es ein Schlüsselerlebnis; sie begann zu erforschen, wie Lesen auf das Gehirn wirkt - und schrieb darüber ein Buch ("Das lesende Gehirn"). Heute leitet sie das Center for Reading and Language Research an der Tufts University in Boston und beschäftigt sich als Professorin für kindliche Entwicklung speziell mit der Bedeutung des Lesens für Kinder. Mit dem Abendblatt sprach sie über die Fähigkeit des "tiefen Lesens".

Hamburger Abendblatt: Viele Menschen, insbesondere Kinder, lesen Texte nur noch online. Das macht Ihnen Sorgen. Warum?

Maryanne Wolf: Digitale Medien wie das Internet bringen uns dazu, eher oberflächlich zu lesen. Wir wollen möglichst schnell viele Informationen verarbeiten; wir checken unsere E-Mails, unsere Facebook-Seite, unsere Apps; wir klicken uns weiter und weiter. Die Aufmerksamkeitsspannen sind sehr kurz. Damit verwehren wir dem Gehirn bestimmte Eindrücke und Erfahrungen. Bücher hingegen bieten uns die Chance, vertieft zu lesen; wir können uns länger auf Wörter, Sätze und Zusammenhänge konzentrieren - und davon profitiert das Gehirn.

Inwiefern?

Wolf: Wenn wir ein Buch lesen, formt sich das Gehirn um. Es verbinden sich Hirnareale, die genetisch für unterschiedliche Zwecke programmiert sind, etwa das Sehen, Hören, Sprachverstehen oder für motorische Fähigkeiten. So entstehen aus vorher getrennten, unabhängig voneinander arbeitenden Nervenzellen völlig neue Strukturen.

Was geschieht dabei im Detail?

Wolf: Die Grundlage für diesen Prozess ist die Fähigkeit des Gehirns, sogenannte Repräsentation zu bilden. Durch bestimmte Areale im hinteren Teil des Gehirns können wir vieles von dem, was wir schon einmal gesehen, gehört, gerochen, oder gefühlt haben, wieder hervorholen - und mit neuen Informationen in Beziehung setzen. Wenn wir lesen, schickt unser Gehirn die visuellen Eindrücke - Buchstaben und Wörter - an den sogenannten visuellen Cortex. Dort sitzen Strukturen, die nun alle Bedeutungen, die mit den visuellen Eindrücken verbunden sein könnten, aktivieren. Zum Beispiel könnte das englische Wort "jam" neben der Bedeutung "Marmelade" auch die Bedeutungen "Verkehrsstau" (traffic jam) oder Musik-Session ("music jam") aktivieren.

Findet diese Verknüpfung von Nervenzellen und von Bedeutungen nur bei Kindern statt, die das Lesen erst lernen?

Wolf: Nein, es funktioniert auch bei Erwachsenen. Es gibt dazu mehrere Studien. So haben Forscher zum Beispiel eine Gruppe von Erwachsenen untersucht, die nicht literarisch gebildet war, also keine Erfahrungen mit Büchern hatte. Ein Teil der Gruppe erhielt dann eine literarische Bildung, der andere Teil blieb auf dem alten Stand. Aufnahmen der Gehirne zeigten: Die belesenen Teilnehmer hatten eine neue Verschaltung des Gehirns; ihre Gehirne reagierten anders auf Sprache als vorher.

Welche Vorteile ergeben sich konkret?

Wolf: Indem wir Bücher lesen, lernen wir mehr über unsere Sprache. Wir vergrößern unser Vokabular, unser Wissen über den Satzbau, wir können komplexe Gedanken besser verstehen. Hinzu kommt: Beim Lesen können wir unsere eigenen Gedanken und Einsichten hinzufügen. Das lässt uns tiefer denken. Erfahrene Leser können Texte nicht nur verstehen, sondern auch kritisch analysieren. Und es gibt einen weiteren Pluspunkt: Das Lesen von Büchern macht uns emotional reicher, weil die Geschichten Gefühle wecken, mit denen wir uns auseinandersetzen.

Können nicht auch Gespräche mit Freunden all das leisten?

Wolf: Ja, durchaus. Die meisten Gespräche finden aber auf einem eher oberflächlichen Level statt. Das Besondere beim Lesen ist: Wenn wir uns in ein Buch vertiefen, können wir Gefühle leichter riskieren; wir können all das einbringen, was uns in diesem Moment bewegt. Auch unserer Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt: Wir können uns in einen Mörder hineinversetzen, wir können ein König sein oder ein Bettler.

Aber muss es sich dafür unbedingt um ein gedrucktes Buch handeln? Bieten elektronische Bücher, die man auf Geräten wie Amazons Kindle oder Apples iPad lesen kann, nicht die gleichen Chancen?

Wolf: Das untersuchen wir derzeit. Das Leseerlebnis mit einem Gerät wie dem Kindle kommt dem Umgang mit klassischen Büchern sicherlich näher als das Lesen im Internet. Junge Menschen, die schon früh mit digitalen Medien in Berührung gekommen sind, können mit elektronischen Büchern vielleicht ähnlich positive Erfahrungen machen wie mit gedruckten Büchern. Ältere, die mit gedruckten Büchern groß geworden sind, werden bei digitalen Büchern eher selten die Freude einer tieferen Leseerfahrung verspüren. Noch aber haben wir zu wenige Daten, um diese Frage abschließend beantworten zu können.

Wie sehen Sie die Zukunft des Lesens?

Wolf: Digitale Medien spielen eine immer größere Rolle; unsere Kinder werden selbstverständlich mit ihnen groß. Die entscheidende Frage ist, ob Kinder künftig allein durch neue Technologien lernen können, vertieft zu lesen. Im Moment glaube ich, dass Kinder dazu neben dem Internet auch gedruckte Bücher brauchen. Allerdings sehe ich auch Chancen in neuen Technologien. Etwa 100 Millionen Kinder auf der Welt haben keinen Zugang zu schulischer Bildung. An meinem Institut an der Tufts University entwickeln wir deshalb einen Tablet-Computer mit speziellen Apps, der solchen Kindern vielleicht - ich betone: vielleicht! - helfen könnte, lesen zu lernen, und ihnen womöglich ähnliche Erfahrungen ermöglicht wie beim Lesen eines gedruckten Buches.