Neue Wirkstoffe scheiterten bisher an Barrieren im Körper. Ein chemischer Tarnanzug soll das ändern und damit die Sterblichkeitsrate senken.

Hamburg. Es muss schon heute kein Todesurteil mehr bedeuten, das HI-Virus in sich zu tragen: Dank des medizinischen Fortschritts können Betroffene viele Jahre mit der Infektion leben. Trotzdem könnte die Lage besser sein, denn in Forschungslaboren lagern bereits Substanzen, die den Erreger der Immunschwächekrankheit Aids wahrscheinlich viel effektiver in Schach halten könnten als alle bisher verfügbaren Medikamente. Doch bisher scheiterten diese neuen Wirkstoffe an Barrieren im Körper.

Prof. Chris Meier von der Universität Hamburg will die Grenzen überwinden. Der Chemiker verfolgt mit seinem Team eine Strategie, die auf die "Ilias" zurückgeht, die Sage vom Kampf um Troja. Weil die Stadt allen Anstürmen standhielt, ersann der griechische Krieger Odysseus eine List: Er ließ ein hölzernes Pferd bauen, in dessen Bauch sich eine Schar von Kämpfern versteckte. Die Trojaner glaubten, dass die Griechen abgezogen seien, und zogen das Pferd in die Stadt. Des Nachts kletterten die griechischen Kämpfer ins Freie - und ließen ihr Heer hinein.

Ebenso funktioniert das Konzept der Hamburger Forscher: Sie tarnen Wirkstoffe derart, dass diese ihre Hülle erst fallen lassen, wenn sie an ihrem Bestimmungsort ankommen - dort, wo sich das tückische Virus vermehrt.

Bei HIV handelt es sich um ein sogenanntes Retrovirus. Das Erbgut dieses Erregers befindet sich nicht auf einem Doppelstrang aus Desoxyribonukleinsäure (DNA) wie bei allen Lebewesen und den sogenannten DNA-Viren, sondern auf einem Strang aus Ribonukleinsäure (RNA). Diese RNA baut das Virus mithilfe der sogenannten reversen Transkriptase, eines mitgebrachten Enzyms, das nicht im Körper vorkommt, in DNA um - und dann mithilfe eines weiteren mitgebrachten Enzyms, der Integrase, dauerhaft in die DNA der Wirtszelle ein. Anschließend nutzt es den Stoffwechsel der Zelle, um aus der DNA eine neue RNA zu machen, die es dann aus der Zelle schleust. Das so erzeugte neue Viruspartikel befällt die nächste Zelle.

In diesen Prozess greifen Aids-Medikamente ein: Verbindungen aus sogenannten Nukleosiden, künstlich hergestellten Erbgut-Bausteinen, werden just dann im Erbgut des Virus platziert, wenn dieses mithilfe der reversen Transkriptase versucht, seine RNA in DNA zu kopieren. So wird die Vermehrung des Virus verhindert.

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Das funktioniert aber noch längst nicht optimal. Denn das Medikament, das der Patient etwa als Tablette einnimmt, muss in der Zelle erst mittels körpereigener Enzyme in drei Schritten so umgewandelt werden, dass der eigentliche Wirkstoff entsteht.

Dabei treten Verluste auf. "Oft entfaltet nur ein sehr geringer Teil der Dosis die gewollte Wirkung, mit der Folge, dass häufig hohe Dosen eingesetzt werden müssen, was das Risiko für Nebenwirkungen erhöht", sagt Meier. "Je effektiver der Wirkstoff ist, desto weiter lässt sich die Dosis reduzieren."

Jene bisher hergestellten Verbindungen, die in Computersimulationen besser wirken, können aber in Reinform die Zellmembran nicht durchdringen, denn diese ist fettliebend, die chemischen Verbindungen sind jedoch eher wasserliebend. Deshalb verpacken Meier und sein Team die künstlichen Nukleoside in Wirkstoffvorstufen, welche die Zellwand passieren lässt. Außerdem haben sie die chemischen Verbindungen so konstruiert, dass im Inneren der Zelle nur noch ein Schritt nötig ist, um den eigentlichen Wirkstoff zu bilden. Das Risiko für Verluste ist dadurch minimal; der Wirkstoff kann erheblich effektiver agieren.

Um an diesen Punkt zu kommen, waren mehr als 1000 Versuche notwendig. Und noch ist unklar, ob der Wirkstoff auch in der Zellkultur funktioniert. Das soll noch in diesem Jahr Meiers Kooperationspartner, der belgische Forscher Prof. Jan Balzarini, testen. Anschließend müsse der Wirkstoff klinische Studien durchlaufen. Bis daraus ein marktreifes Medikament werde, könnten noch Jahre vergehen. Verlässt den Forscher Meier angesichts dieses enormen Aufwands nicht bald die Geduld? "Nein", sagt er, ohne zu zögern. "Die Herausforderung spornt uns an. Aufgeben kommt nicht infrage."

Das gilt umso mehr, als die Forscher im Wettlauf mit dem HI-Virus zurückliegen. Nachdem Mitte der 80er Jahre die ersten Aids-Medikamente zugelassen worden waren, traten bereits Anfang der 90er die ersten resistenten HIV-Varianten auf. Zu Beginn des neuen Jahrtausends gingen Ärzte deshalb zunehmend dazu über, das Virus mit mehreren Medikamenten gleichzeitig an zwei Stellen zu hemmen. Dadurch gelang es, die Virusvermehrung bei vielen Patienten zeitweise so niedrig zu halten, dass der Erreger im Blut nicht mehr messbar war.

Mittlerweile gibt es jedoch Resistenzen gegen alle verfügbaren Wirkstoffe - und sogar erste Fälle von Resistenzen gegen Kombinationstherapien. Deshalb arbeitet Meier parallel an einem neuen Ansatz, zusammen mit dem Infektionsmediziner Dr. Jan van Lunzen vom UKE, dem Virologen Prof. Joachim Hauber vom Heinrich-Pette-Institut und dem Biochemiker Prof. Rolf Hilgenfeld von der Universität Lübeck. Details wollen die Forscher zwar erst Anfang nächsten Jahres veröffentlichen, die Grundlage darf Chris Meier aber schon jetzt erläutern.

Wenn das HI-Virus aus der DNA der Wirtszelle ein neues Erbgut hergestellt hat, muss es diese virale RNA aus dem Kern der Zelle ins Cytoplasma schleusen, die flüssige Grundsubstanz der Zelle. Um durch die Membran des Zellkerns zu dringen, benötigt die RNA die Hilfe eines zelleigenen Proteins(eIF-5A). Mit einem neu entwickelten Hemmstoff sei es gelungen, das Protein zu blockieren. Dies funktioniere sogar schon in der Zellkultur, sagt Meier. Das Besondere: Weil sich der Wirkstoff gegen ein Protein richtet, das nur von der Zelle gebildet wird (nicht gegen vom Virus mitgebrachte Enzyme wie beim ersten Ansatz) kann der Erreger gegen diese Methode keine Resistenz bilden.

Bildlich gesprochen: Das Virus ist zwar bereits ins Haus eingebrochen. Jetzt wollen die Forscher es dort zumindest nicht wieder herauslassen.